Leipzig. Beim Thema Mieten, Mietsteigerungen oder Verdrängung von sozial schwachen Einwohnern aus aufstrebenden Stadtteilen kommt es wohl immer auf die Perspektive an. Dieses Fazit zumindest lässt sich von einem Podiumsgespräch über "Gentrifizierung im Leipziger Westen" ziehen, das am Donnerstagabend mehr als 100 Zuhörer ins "Neue Schauspiel" an der Lützner Straße lockte.
Einen Knaller gab es kurz vor Ende der zweistündigen Debatte. Befragt,
was sich gegen die Verdrängung angestammter Mieter tun lasse, meinte der
Landtagsabgeordnete Marco Böhme (Linke), die Einwohner sollten "den
Stadtteil einfach auch abwerten". Tipps dazu gebe es in einer Broschüre,
die das Netzwerk Schlindewitz als Veranstalter auf allen Stühlen
ausgelegt hatte.
Tatsächlich wird in dem Heft unter anderem zur
"aktiven Abwertung" geraten. Auf Seite 3 steht: "Richtig eingesetzt
hilft sie, das Erscheinungsbild deiner Wohnung und darüber hinaus zu
verschlechtern und den Kiez von Yuppis, Hipstern und Bonzen zu säubern."
Um "Doppelverdiener-Familien mit fetten Geländewagen" abzuschrecken,
leisteten "Trainingsanzüge, Alditüten voller Bierdosen, Sperrmüll auf
öffentlichen Grünanlagen und Pitbulls hervorragende Dienste."
Böhmes Empfehlung wurde aber nicht mal von Angela Seidel aufgegriffen,
die als Vertreterin der Mietergemeinschaft Holbeinstraße 28 im Podium
saß. Diese musste die alte Fabrik im Januar verlassen, ein Rechtsstreit
läuft. "Ich wünsche mir mehr Positives, dass beide Seiten aufeinander
zugehen und sich Immobilieninvestoren ihrer sozialen Verantwortung
stellen", sagte sie.
Norbert Raschke vom Amt für
Stadterneuerung (ASW) räumte ein, dass die Kommune nicht mit einem so
starken Einwohnerwachstum gerechnet habe, wie es seit 2010 zu beobachten
sei. Nun würden jährlich 5000 bis 6000 neue Wohnungen benötigt, während
trotz des aktuellen Baubooms nur etwa 4000 durch Sanierungen und
Neubauten hinzukämen. "Die Stadt ist aber für das Problem
sensibilisiert, arbeitet am neuen wohnungspolitischen Konzept, um einen
Ausgleich der Interessen zu befördern."
Heiko Müller,
Quartiersmanager im Leipziger Westen, plädierte für Spinnstunden. "Wir
reden immer nur über die gleichen Instrumente wie Milieuschutz oder
Mietpreisbremse. Die stoßen aber alle schnell an Grenzen." Vielleicht
ließen sich neue Formen für bewährte Dinge wie die Stiftung Meyer'sche
Häuser erfinden?
FDP-Stadtrat René Hobusch nahm als
Vorstandsmitglied des Eigentümerverbandes Haus & Grund teil: "Mit
derzeit 5,08 Euro ist die Leipziger Durchschnittsmiete für viele
Hauseigentümer nicht kostendeckend." Bei einer Internetabfrage erst am
Vormittag habe er 185 Vermietungsangebote allein in Plagwitz für unter
sechs Euro kalt gefunden. "Wir verfügen in Leipzig über 330000 Wohnungen
bei knapp zehn Prozent Leerstand. Auf der Internetseite von unserer
Moderatorin Juliane Nagel stehen ganze sieben Fälle von Verdrängungen in
letzter Zeit. Worüber reden wir da überhaupt?"
Dies machte
Norma Brecht vom Bündnis "Stadt für alle" klar. Sie sagte: "Wir haben
nichts gegen schöne Fassaden, wenden uns aber gegen Spekulationen oder
Profitmaximierung auf Kosten von Mietern." Das Bündnis fordere zum
Beispiel, das städtische Liegenschaftsamt vom Verkaufsdruck im
Wirtschaftsdezernat zu befreien und dem ASW zuzuordnen. Die kommunale
Wohnungsgesellschaft LWB solle Grundstücke nur noch in Erbpacht oder per
Konzeptvergabe an potenzielle Nutzer abgeben. Letzteres fand im Podium
durchweg Zustimmung.Trotz aller verschiedenen Perspektiven.