Kunst zum Erinnern: Gunter Demnig ist der Mann, der Europa mit Zehntausenden Stolpersteinen bepflastert. Was treibt ihn an? Ein Arbeitsbesuch.
Von Marina Kormbaki
Hameln. Der rote Kleinbus rumpelt aufs Pflaster der Fußgängerzone, vor der Menschentraube bleibt er stehen. Ein Mann steigt aus, den Stetson tief ins Gesicht gezogen, rotes Halstuch, Weste mit vielen Taschen. Er geht ums Auto und öffnet die Hecktüren, aber die Menschen beachten ihn nicht. Zu ihnen spricht der Bürgermeister von Hameln, anschließend halten Schüler Referate über Menschen, die einst im Haus hinter ihnen lebten und dann nicht mehr. Der Mann mit Hut trägt Kelle, Mörtel und einen goldglänzenden Stein heran und macht sich ans Werk; ans Erinnerungswerk.
Fast jeder in Deutschland kennt die Stolpersteine. Der Mensch aber, der
sie erfunden hat und verlegt, der von ihnen lebt, ist den meisten ein
Unbekannter.
Gunter Demnig ist der Mann, der Deutschland mit Stolpersteinen
bepflastert - jenen quadratischen Betonsteinen mit einer Oberseite aus
Messing, die im Telegrammstil Auskunft gibt über das Schicksal von
Menschen, die von den Nationalsozialisten verfolgt, vertrieben, ermordet
wurden. "Hier wohnte...", "hier wirkte...", "hier lernte..."- so
beginnt der Text, gefolgt vom Namen des Opfers, seinem Geburtsjahr,
Deportationsjahr, Todesort. Es gibt Menschen, die halten die
Stolpersteine für eine Initiative der Bundeszentrale für Politische
Bildung oder sonst einer offiziellen Stelle. So sehr scheint sich das
Projekt schon institutionalisiert zu haben, was verständlich ist
angesichts der mehr als 50000 bereits verlegten Stolpersteine. "Nee,
nee", sagt Gunter Demnig, und sein leicht spöttisches Lächeln lässt
wiederum auf Steine schließen, die ihm von offizieller Seite in den Weg
gelegt worden sind, "das ist mein Kunstwerk." So sieht er sich: ein
Künstler, der jenen ihre Namen zurückgibt, die von den
Nationalsozialisten zu Nummern entwürdigt wurden. Das Erinnern an Tod
und Vertreibung ist Demnigs Lebenswerk.
Seit 20 Jahren schon ist der Kölner Bildhauer mit seinem Werkzeug und
den Steinen im Kleinbus unterwegs, um irgendwo in der Republik
Stolpersteine zu verlegen. Ein endloser Road Trip, am Abgrund der
Geschichte entlang. In jüngster Zeit aber werden Demnigs Termine
zahlreicher und die Wege länger. Manchmal vergehen Wochen, ehe er seine
Partnerin wiedersieht. Hotels sind an die Stelle eines Zuhauses
getreten. Und der rote Transporter, versteht sich. Im vergangenen Jahr
war er 265 Tage auf Achse, und manchmal waren es drei, vier Orte pro
Tag, die der 67-Jährige aufsuchte. In Deutschland, aber auch in den
Niederlanden, in Polen, Norwegen, Österreich, Rumänien, Tschechien.
Demnigs unheimlich voller Terminkalender spiegelt das ungeheuerliche
Ausmaß der NS-Vernichtungspolitik. Aber Demnig hat eine weitere
Erklärung dafür, dass ausgerechnet jetzt so viele lokale
Gedenkinitiativen, Schulen, Gemeinden und Privatleute die 120 Euro pro
Stein berappen und Demnig zu sich einladen. "Die Generation der Täter
und der Opfer sprach nicht über ihre Erlebnisse, jahrzehntelang wurde
geschwiegen, aber das ist jetzt vorbei. Die heute Jungen wollen wissen,
was geschehen ist." Ist das so? Erst vor Kurzem, zum 70. Jahrestag der
Auschwitz-Befreiung, hat die Bertelsmann-Stiftung eine Studie
veröffentlicht, wonach 81 Prozent der Deutschen die Geschichte der
Judenverfolgung gern "hinter sich lassen" möchten, 58 Prozent möchten
einen "Schlussstrich" ziehen. "Das deckt sich nicht mit meiner
Erfahrung", sagt Demnig an diesem trüben Wintermorgen in Hameln und
deutet auf die Schülergruppe, die gleich, bei der nächsten von insgesamt
20 Steinverlegungen an diesem Tag, aus dem Leben weiterer NS-Opfer
berichten wird. "Mit der monströsen Zahl von sechs Millionen
Holocaust-Opfern können die im Geschichtsunterricht doch nichts anfangen
- wer kann das schon? Sobald aber vom Einzelschicksal die Rede ist,
sind sie interessiert und betroffen."
Demnigs Geschichtsunterricht endete mit der Weimarer Republik. Der Vater
hat über seine Zeit als Besatzer in Frankreich geschwiegen. Am
Sterbebett, erzählt Demnig, rief er aus, er sei im KZ. "Mein
Geschichtslehrer war Rudi Dutschke", sagt Demnig, "ich hab' den noch in
der Berliner Falken-Baracke reden hören." Demnig malte damals US-Flaggen
mit Totenköpfen, was ihm einige Tage in Haft einbrachte. Seine Kunst
war immer schon politisch, sagt er und bezweifelt, dass es überhaupt so
etwas wie unpolitische Kunst geben kann. Die Stolpersteine sind sein
Beitrag zur Überwindung des Schweigens, wie es damals bei ihm zu Hause
herrschte.
Die ersten 7000 Steine hat Demnig noch selbst gegossen. Inzwischen aber
ist die Anfrage so groß und die Organisation so aufwendig, dass er ein
Team von fünf Leuten um sich geschart hat, darunter ein Bildhauer, der
in Berlin die Steine herstellt. Dass die nun immer häufiger im Ausland
verlegt werden, erklärt er mit dem Stand der Aufarbeitung dort. Immer
neue Erkenntnisse treten zutage, und Demnig staunt über die vielen
unbeleuchteten Folgen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. "Im
September war ich in der griechischen Stadt Thessaloniki, wo einst eine
jüdische Mädchenschule war. Von einem Tag auf den anderen verschwanden
alle 174 Schülerinnen. Oder neulich, in Rom: Dort verlegte ich Steine
für zwölf Carabinieri. Sie hatten sich geweigert, der SS beim Aufspüren
von Juden zu helfen, und wurden deportiert." Ob die Leute das nicht
seltsam finden, dass ausgerechnet ein Deutscher sie an die Vergangenheit
erinnert? "Im Gegenteil", sagt Demnig, "immer wieder höre ich: Schön,
dass endlich mal ein Deutscher zu uns kommt und mit uns der Opfer
gedenkt."
Nicht jeder mag, was Demnig macht. München zum Beispiel ist für ihn
tabu, weil Charlotte Knobloch, ehemalige Präsidentin des Zentralrats der
Juden in Deutschland, sein Projekt "unerträglich" findet. Die
eingravierten Namen Ermordeter würden mit Füßen getreten, argumentiert
die Münchnerin Knobloch, einige jüdische Gemeinden sehen es ähnlich.
Künstler und Kunstkritiker werfen Demnig wiederum ein allzu plakatives
Werk vor, was er auch gar nicht bestreitet.
"Klar sind die Stolpersteine plakativ, deswegen sind sie als Mahnmal
auch besser geeignet als abstrakte Gedenkstätten, wo zweimal im Jahr
Kränze abgelegt werden und das war's. Die Steine sind alltäglich und
konkret, und jeder weiß sofort, was gemeint ist, anders als beim
Holocaust-Denkmal in Berlin, wo man erst mal lange nachdenken muss." Im
Unterschied zum Stelen-Monument für die ermordeten Juden Europas richten
sich die Stolpersteine an alle Opfergruppen. Was aber nicht bedeutet,
dass Demnig jede Anfrage umsetzt. "Vor Kurzem bat ein Paar um einen
Stolperstein für einen Angehörigen, der 1936 wegen Widerstands
verurteilt worden sei. Nach unseren Recherchen beim Bundesarchiv
stellten wir aber fest, dass der Mann wegen seiner Homosexualität ins
Zuchthaus gesteckt wurde. Seine Familie wusste das, bestand aber auf das
Etikett ,politischer Häftling'. Ich wollte dem Mann nicht noch mal
seine Identität nehmen und lehnte ab."
Präzise hämmert Demnig die Steine ins Pflaster, einfühlsam spricht er
über die Schicksale dahinter. Einzig der unruhige Blick unter der
Hutkrempe verrät die Rastlosigkeit eines Menschen, der noch viel vor hat
im Leben und bezweifelt, dass dazu genug Zeit bleibt. Reich sei er
nicht geworden, sagt Demnig. Aber er hat 50000 Euro gespart und damit
eine Stiftung gegründet. Sie soll sein Werk fortsetzen, wenn er es nicht
mehr kann. Mag sein, dass Demnig sich mit jedem Stolperstein auch
selbst ein Denkmal setzt. Vor allem aber ist seine Kunst ein Wettlauf
gegen das Vergessen. Demnig und sein roter Bus sind unaufhaltsam.