Aufarbeitung im Anfangsstadium: Für den Zeitraum ab 1995 hat das Landeskriminalamt Hamburg insgesamt 31 Tötungsdelikte, 26 Raubstraftaten und vier Sprengstoffdelikte erneut geprüft. Bei 29 bisher unaufgeklärten versuchten und vollendeten Tötungsdelikten wie Mord und Totschlag schließt das LKA eine mögliche rechtsmotivierte Tatbegehung nicht mehr aus.
Die bereits im Zeitraum 2006 bis 2008 für die Ermittlungen im Mordfall Süleyman Taşköprü zuständige Sonderkommission „SOKO 061 Netz“, die 2001 die Täter im „Hamburger Rotlichtviertel“ suchte und das NSU-Mordopfer und dessen Familie in die Nähe der organisierten Kriminalität schob, wurde nach dem zufälligem Auffliegen der Tatserie des Nationalsozialistischen Untergrunds am 15. November 2011 wieder eingesetzt. An den Folgen der einseitigen und unsensiblen Ermittlungen leiden die Angehörigen des Familienvaters bis heute.
Der Mord und seine Folgen
Sein Vater, Süleyman Tasköprü, kommt an diesem schicksalhaften 27. Juni 2001 mit dem Auto vom Markt zurück, wo er noch zwei Sorten Oliven besorgte. Als er Gegen 11.15 Uhr aus dem Auto steigt und zu Fuß zum Familienladen geht, sieht er zwei Männer das Geschäft verlassen: Sie tragen Jeans und T-Shirt sowie eine weiße Plastiktüte in der Hand. Er betritt den gemeinsamen Laden und denkt bei dem großen Fleck auf den Boden zuerst an ausgelaufenes Öl, sieht aber dann seinen Sohn da liegen.
Nachbarn erinnern sich an eine gerufene Frage nach dem Ergehen, gefolgt von einem lauten Schreien. Vater und Opa Tasköprü nimmt den Kopf seines Sohnes aus der Blutlache und streichelt ihn. Sein Sohn, der 31 jähriger Obst- und Gemüsehändler, verstirbt auf seinen Schoß und hinterlässt neben Vater auch Mutter, drei Geschwister, seine Verlobte und eine zweieinhalbjährige Tochter. Sie wächst in Folge bei den Großeltern auf. Obwohl Vater Tasköprü der Polizei sagt, es seien zwei Deutsche gewesen, etwa 25 bis 30 Jahre alt, wird dies schnell von den Ermittlern als erledigt abgehakt und nicht als weiterer Ermittlungsansatz erörtert.
Mit drei Schüssen in den Kopf wurde der Familienvater Süleyman Taşköprü am helllichten Tag in seinem Gemüseladen in der Schützenstraße in Hamburg-Bahrenfeld hingerichtet, mutmaßlich von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt. Einen rassistischen Hintergrund witterte trotz zahlreicher Hinweise offenbar lange Zeit niemand bei der Hamburger Polizei. Die Abteilung für Organisierte Kriminalität des Landeskriminalamts übernahm die Ermittlungen und ging offensichtlich von rassistischen Deutungsmustern getrieben von Auseinandersetzungen unter verschiedenen türkischen Gruppierungen, von Schutzgelderpressern und Drogenhändlern aus. Gegen die neonazistische Szene wurde bis 2011 nicht ermittelt, obwohl diese sich bereits damals in Teilen offensichtlich militant und potenziell terroristisch gab, auch in Hamburg.
Der deutsch-türkischen Familie, durch den Verlust eines Familienangehörigen und durch falschen Verdächtigungen von deutschen Medien und Ermittlungsbehörden in die Enge getrieben, wurde die Kraft genommen, den Laden weiterzuführen. Der „Tasköprü Market“ schloss, die Täter sind bis heute nicht verurteilt und zwei von ihnen wahrscheinlich Tod. Beate Zschäpe sitzt in München als mutmaßliche Mittäterin auf der Anklagebank im NSU-Prozess.
Eine oder zwei Ermittlungsgruppen?
Die im Herbst 2011 wieder eingerichtete Sonderkommission „SOKO 061 Netz“ arbeitet mit der bei dem Bundeskriminalamt eingesetzten Besondere Aufbauorganisation (BAO) „Trio“ zusammen, die die Tatserie im Auftrag des Generalbundesanwalts untersucht. Die Informationshoheit über die Ermittlungsergebnisse ging damit an die oberste Strafverfolgungsbehörde der Bundesrepublik Deutschland.
Wie jetzt die Senatsantwort auf eine schriftliche Kleine Anfrage der Bürgerschaftsabgeordneten Christiane Schneider (Linke) offenlegt, wurde in Hamburg am 15. November 2011 die „Besondere Aufbauorganisation (BAO) Fokus“ eingerichtet. Ob diese personell die gleiche wie die vorherige SOKO 061 „Netz“ ist oder ob beide Ermittlungsgruppen parallel arbeiten, war bis Redaktionsschluss nicht herauszufinden.
Laut dem Landeskriminalamt Hamburg begann die BAO Fokus – zunächst unabhängig von späteren bundesweiten Kriterien – mit der erneuten Überprüfung nicht aufgeklärter Tötungsdelikte wie Mord und Totschlag sowie von Bankraub- und Sprengstoffdelikten im Hinblick auf mögliche rechts motivierte Hintergründe. Dabei wurde für ungeklärte Tötungsdelikte vom LKA der Zeitraum ab 1995 zugrunde gelegt; für Raub- bzw. Sprengstoffdelikte der jeweils nicht verjährte Zeitraum. Dabei wurde berücksichtigen, dass Akten – mit Ausnahme der Akten zu Tötungsdelikten – nur fünf Jahre aufbewahrt werden, so ist in der Senatsantwort zu lesen.
Für den Zeitraum ab 1995 hat das Landeskriminalamt Hamburg insgesamt 31 Tötungsdelikte, 26 Raubstraftaten und vier Sprengstoffdelikte erneut geprüft.
Quelle: Hamburger Senat, Drucksache 20/10209
Das LKA konnte – laut der Antwort des Hamburger Senats – in keinem der untersuchten Fälle Anhaltspunkte für eine mögliche rechts motivierte Tatbegehung erlangen. Aber auf Grundlage des von der Bund-Länder-Ebene im „Gemeinsamen Abwehrzentrum Rechts (GAR)“ vereinbarten Phasenkonzepts hat das LKA ab dem 13. August 2012 im Rahmen der 1. Phase jedoch insgesamt nochmals 200 ungeklärte vollendete oder versuchte Tötungsdelikte seit 1990 überprüft. Nach dem bundesweit einheitlichen Erhebungsraster der GAR zur Feststellung weiterer möglicher Verdachtsfälle rechtsterroristischer Aktivitäten konnte nun bei 29 ungeklärte Tötungsdelikte in Hamburg „eine rechts motivierte Tatbegehung nicht absolut ausgeschlossen werden“, wie es im sperrigen Beamtendeutsch formuliert ist.
Vom LKA zum GAR
Die Informationen über diese Fälle wurden laut der Stadtstaatsregierung der Arbeitsgruppe Fallanalyse des Gemeinsamen Abwehrzentrum Rechts übermittelt. Daraus ergibt sich, dass diese dort zusammen mit weiteren Verdachtsfällen aus den anderen Bundesländern noch ein weiteres Mal nach rechten oder rechtsterroristischen Tatmotivation hin überprüft werden. Hamburg ist damit eines der ersten Bundesländer, die sich bereits in Phase 2 befinden: Die Überprüfung bisher ungeklärter Brand- und Sprengstoffdelikte.
In Phase 3 sollen ungeklärte Raubüberfälle auf Banken und Sparkassen folgen, bevor bisher ungeklärte Straftaten gegen das Waffen-, Sprengstoff- und Kriegswaffenkontrollgesetz auf ihre Rechtsmotivation hin überprüft werden. Laut der Hamburger Senatsantwort ist die Überprüfung ungeklärter Vereinigungsdelikte gemäß § 129 StGB, also die Bildung von kriminellen Vereinigungen, erst in Phase 5 vorgesehen.
Hier zeigt sich allen Verschwörungstheorien zuwider, dass es weiterhin erheblichen politischen und parlamentarischen Druck benötigt um die augenscheinliche behördliche Inkompetenz und das bundesländerübergreifende Ermittlungspannenchaos aufzupuzzeln um allen NSU-Verdachtsfällen nachzugehen zu können. Dass zu schnelle Versteifen auf Verschwörungstheorien, blendet weiteres gesellschaftliches und behördliches Versagen aus und nimmt so Druck von einer zeitintensiven aber auch faktenorientierten Aufklärung und setzt dem Alltagsrassismus bei Polizei und Staatsanwaltschaft nichts entgegen.