Das Urteil des Europäischen Menschenrechts-Gerichtshofs hat im spanischen Staat einen wahren Sturm ausgelöst. Einen Sturm der Ultrarechten, vor allem der Verbände von Angehörigen von Opfern, die nicht weniger als die Nichterfüllung des Urteils fordern. Für Regierung und Justiz ist der Druck jedoch groß genug, um nachzugeben, widerwillig und mit allerlei juristischen Tricks und schmutzigen Spielzügen. Tatsache ist, dass mit den am 8.11. entlassenen 9 nunmehr 11 Gefangene die Freiheit erlangt haben, die ihnen seit Jahren zustand. Die Straßburger Richter waren laut Presse einigermaßen überrascht über die heftige Kritik, die sie sich von Seiten von Regierung und Vertreter/innen der Verbände der “Opfer des Terrorismus“ anhören mussten.
Dabei wäre eine anderslautende Entscheidung des EGMR ein Skandal gewesen, denn keine noch so parteiische Justiz kann rückwirkend die eigenen Regeln ändern und Strafen gesetzteswidrig ausweiten. Das wurde nicht zuletzt bei zwei Gefangenen deutlich, die von den Knastbehörden regelgerecht entlassen und vom Obersten Gerichtshof wieder von der Straße geholt wurden. Besonders im Visier der spanischen Rechten steht der spanische Vertreter im EMRG, der offensichtlich die EG-Entscheidung mitgetragen hatte und sogleich zum Vaterlands-Verräter abgestempelt wurde. Was deutlich macht, woher der Wind weht in der spanischen Justiz: entschieden wird normalerweise nicht nach Recht und Gesetz, sondern Gewehr bei Fuß nach politischen Kriterien, wenn ein Richter sich dieser Praxis ausnahmsweise widersetzt, wird er zum Abschuss freigegeben.
Aus spanischen Justizkreisen sind widersprüchliche Aussagen zu den Folgen des EG-Urteils zu vernehmen. Zu Beginn wurde anerkannt, dass sich die Entscheidung nicht nur auf die in Europa klageführende Gefangene Ines del Rio beziehe, sondern auf alle andern gleichlautenden Fälle. Dies hatte Straßburg in einem Urteilsparagrafen extra abgesichert. Sofort nach dem Urteil waren zwei Gefangenen entlassen worden, danach entschied die Audiencia Nacional, alle weitere Betroffen sollten ebenso behandelt werden, selbst wenn sie noch Einsprüche vor dem Obersten oder dem Verfassungsgericht offen hätten. Eine überraschende Entscheidung mit nur einer Gegenstimme unter 17. Dennoch geschah nichts weiter. Im Gegenteil kam die AN in ihrer nächsten Sitzung der Forderung nach zeitlicher Verschleppung nach, die Entscheidung der oberen Instanzen abzuwarten und doch nicht freizulassen. In der folgenden Sitzung wurde auch dieser Umschwung umdefiniert. Mit 9 zu 8 Stimmen wurden 9 Gefangene freigelassen, allem Anschein nach jene, die am längsten hatten “Nachsitzen“ müssen, zwischen vier und sechs Jahren. Und der Rest?
Gleich nach dem europäischen Urteil hatten die ultrarechten Opferverbände zur Demonstration in Madrid mobilisiert, um die rechte Regierung unter Druck zu setzen. Parole: “Urteil nicht umsetzen“. Damit eröffnete sich für Rajoy und Konsorten ein Dilemma. Denn eine solche Forderung konnten sie vor den Augen Europas nicht mittragen. Gleichzeitig wollten sie keinesfalls fehlen bei der Mobilisierung, um verloren gegangene Kredite im rechten Lager zurückzugewinnen. Es kam zum Spagat. Die Regierung sollte nicht als solche beim Spektakel erscheinen, sondern aufgrund persönlicher Entscheidung als Politiker. Mit einem diplomatischeren Motto als dem agressiven offiziellen (Bericht Baskinfo). Aber dabei sein. Die Demo selbst wurde trotz der angezeigten Empathie für die “Opfer-Verbände“ zum Spießrutenlaufen für alle nicht ganz so rechten PPler. Vorgeworfen wurde ihnen, dass das Urteil ein abgekartetes Spiel gewesen sei. Neben Pfiffen und Schährufen wurde zudem das alte Argument wieder belebt, die Regierung verhandle heimlich mit ETA, was zwar immer heftig dementiert wird, in nüchternen Kennerkreisen jedoch für möglich gehalten wird. Generell geriet die Großveranstaltung in Madrid zu einem nationalistischen Spektakel mit einem rot-gelben Fahnenmeer. Als Regierung bei einer Veranstaltung anwesend zu sein, bei der nicht nur Ultrarechte, sondern Faschisten in großer Zahl teilnahmen, spricht für sich, nicht jedoch für eine demokratische Vertretung.
Fragt sich, was die “Opferverbände“ eigentlich wollen? Auf jeden Fall sind sie für Strafverlängerung, in den Jahren des offenen bewaffneten Konflikts war regelmäßig zu hören, die “Gefangenen sollen im Knast verfaulen“. Also lebenslang oder Todesstrafe. Der Vollständigkeit halber soll erwähnt sein, dass bei Weitem nicht alle “Verbände von Terrorismus-Opfern“ nach Madrid reisten. Vor allem baskische und katalanische, der PSOE nahestehend, verweigerten nicht zum ersten Mal die Gefolgschaft, sie setzen wie die große Mehrheit der baskischen Gesellschaft auf Dialog. Zur Demo-Parole, es müsse Sieger und Besiegte geben, sagte im baskischen Fernsehen eine Frau, sie wisse nicht, zu welcher Kategorie sie sich zählen sollte. Sie habe bei einem Attentat ihren Mann verloren, fühle sich somit als Verliererin und könne mit der Siegesmentalität nichts anfangen.
Die baskischen Reaktionen auf das Straßburger Urteil waren positiv, mit Ausnahme der PP, selbst direkte Anschlagsopfer ETAs wie der Journalist Gorka Landaburu lobten die Entscheidung. Ein hoher Vertreter der PSOE erklärte, die Opfer-Angehörigen könnten nicht die Schritte der Politik bestimmen. Die abertzale Partei Sortu ihrerseits reagierte ausgesprochen gelassen, ohne öffentliche Siegesfeiern, wohl, um nicht Öl ins Feuer der Ultrarechten zu gießen und der Regierung ihre fortwährende Verhandlungsbereitschaft zu signalisieren. Intern wurde beschlossen, in Zukunft von den öffentlichen Willkommens-Empfängen für entlassene Gefangene abzusehen, mit der Begründung, sie führen regelmäßig zu neuen Verfahren wegen “Verherrlichung von Terrorismus“. Diese Maßnahme wurde in abertzalen Nicht-Partei-Kreisen teilweise scharf kritisiert. Generell hat sich bei den baskischen Parteien ein neuer Optimismus eingestellt, mit der Straßburger Entscheidung den Normalisierungs-Prozess wieder in Gang bringen zu können.
In ihrer Ohnmacht gegen das Parot-Urteil kartet die Rechte nun nach, wo sie kann. Gefangene sollen nicht wie üblich nach der Entlassung Sozialhilfe erhalten, wenn sie nicht öffentliche Reue gezeigt hätten, so eine Forderung. In einigen baskischen Stadträten wurden Resolutionen vorgestellt, die entlassenen Gefangenen in ihren Heimatorten zu “nicht erwünschten Personen“ zu erklären. Der Versuch scheiterte, weil nicht einmal die PSOE mitzieht, von PNV und Bildu ganz zu schwiegen. Heftige Kritik erfuhr der oberste baskische Richter, der in einem Interview erklärt hatte, Ines del Rio sei nach ihrer Entlassung keine Terroristin mehr, einen Tag später musste er zurückrudern und eingestehen, dass er möglicherweise Gefühle von Opfer-Angehörigen verletzt habe. Die baskisch-konservative Tageszeitung DEIA bilanzierte den ganzen Streit, die spanische Regierung habe mehr Interesse an einem Weibterbestand von ETA unter dem Vorzeichen des Waffenstillstands, als an einem geordneten Ende der Organisation auf dem Verhandlungsweg. Vieles spricht dafür, dass sie Recht hat.
Bleibt die Frage, wann die übrigen Parot-Gefangenen freigelassen werden. Einige werden auf die Entscheidungen der oberen Gerichte warten müssen, darunter der Supremo (Oberster Gerichtshof), der die Doktrin der Strafverlänerung erfunden hatte. Über die Zahl der Gefangenen die vom Straßburg-Urteil betroffen sind, existieren Widersprüche. Von wenigstens 26 ETA-Gefangenen war zuletzt die Rede, dabei sind wenigstens 70 von der Parot-Doktrin betroffen, nicht zuletzt Unai Parot, auf den die illegale Strafverlängerung im Jahr 2006 zuerst angewendet wurde und der dadurch zum unfreiwilligen Namensgeber wurde. (Red.Baskinfo)
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