Ahmed kämpft auf Seiten der Freien Syrischen Armee als Scharfschütze im Bergland Syriens. Während eines kurzen Besuchs in der Türkei erzählt er der Dokumentarfilmerin Anna Clementi seine Geschichte. Ein Beitrag der Alsharq Partnerseite Focus on Syria.
Heute Nacht erscheint der Himmel heller als sonst. Von der Terrasse eines Asia-Restaurants blicken wir über die Altstadt von Antakya. Wir machen eine Pause, trinken ein kaltes Bier nach einem harten Filmarbeitstag. Wir sitzen am Tisch mit Ahmed (Name von der Redaktion geändert), 24 Jahre, der groß und schlank ist, volles Haar und ein breites Lächeln hat. Morgen wird Ahmed Syrien betreten und sich den Kämpfern der Freien Syrischen Armee in den Bergen nördlich von Latakia anschließen.
Ich betrachte ihn, während er eine Zigarette raucht und mit seinen Freundinnen und Freunden lacht. Bei dieser Gelegenheit erzählt uns Ahmed seine Geschichte. Im Hintergrund ertönt der Gebetsruf, es weht eine sanfte Briese.
„Als die Demonstrationen anfingen,wurde ich in den Armeedienst berufen. Ich hatte keine andere Wahl. Nach einigen Monaten der Ausbildung fand ich mich im Einsatz auf der Straße wieder und löste Demonstrationen auf. Ich erinnere mich genau an den Tag, an dem ich mich von der Armee lossagte. Wir waren in Zabadani, einer Kleinstadt in der Nähe von Damaskus, und man befahl uns, auf die friedlich demonstrierenden Menschenmassen zu schießen. Ich konnte es nicht mehr aushalten. Ich sollte auf SyrerInnen schießen, die nach Würde, Gleichheit und Rechten verlangten.
Warum wurde mir befohlen, zu schießen?
Ich bin mit 16 anderen Soldaten meiner Einheit desertiert. Wir gingen nach Damaskus, um aus Syrien zu fliehen, da wir wussten, dass unser Desertieren schreckliche Folgen sowohl für uns als auch für unsere Familien haben würde. Das Regime verzeiht Deserteuren nicht. Wir waren am Busbahnhof von Sumariyeh in Damaskus, als wir angehalten und verhaftet wurden. Ich wurde ein Jahr in Seidnayya, einem der schlimmsten Gefängnisse Syriens, festgehalten. In jeder Zelle waren mindestens 50 Menschen, es gab nicht mal genug Platz zum Schlafen. Die Wand, der Boden, die Toiletten, alles war rot - selbst das Geschirr und die Gläser, die zum Essen und Trinken benutzt wurden.
Wir wurden gezwungen, um 8 Uhr morgens aufzuwachen und bis 18 Uhr in Handfesseln auf unseren Knien zu sitzen, ohne miteinander sprechen zu dürfen. Wir flüsterten, damit uns die Wachmänner nicht hören konnten, aber eine richtige Unterhaltung war so unmöglich. Ab und an nahmen sie einen von uns in einen anderen Raum und folterten ihn. Einige Tage lang war ich in Einzelhaft in einer unterirdischen Zelle, die so klein war, dass ich meine Beine nicht ausstrecken konnte. Ich wurde mit glühenden Eisenstangen geschlagen und gefoltert. Ich sah ein Jahr lang kein Sonnenlicht.”
Ahmed fährt in seiner Erzählung fort, raucht dabei und spricht, als sei es nicht seine eigene Geschichte – ganz so als sei die Vergangenheit zu schmerzhaft, um ihr persönlich zu begegnen.
Als Deserteur hatte ich kaum eine Wahl
„Nach einem Jahr Haft und einer hohen Zahlung wurde ich freigelassen. Ich hatte mehr Glück als andere, die immer noch im Gefängnis sitzen. Meine Familie hatte mich tot geglaubt und bereits meine Beerdigung gefeiert. Als ich frei kam, wusste ich, dass ich kaum eine Wahl hatte. Ich war ein Deserteur und wurde deswegen vom Regime gesucht. Gleichzeitig fühlte ich, dass ich etwas für mein Land tun musste. So beschloss ich, mich der Freien Syrischen Armee anzuschließen.“
Ahmed kämpft jetzt gegen das Regime. Er zeigt mir einige Bilder der Kämpfe und einige Portraits von ihm in der Uniform der FSA. Wenn er sich ausruhen muss, kommt er nach Antakya, in die Türkei, wo er sich mit Freundinnen und Freunden eine Wohnung teilt.
Ahmed hat eine besondere Beziehung zu seinem Freund ´Ali, der mit ihm zusammen von der Armee desertiert ist. „An jenem Tag in Zabadani haben 16 Leute unserer Gruppe entschieden, die Armee zu verlassen. `Ali und ich sind die Einzigen, die noch am Leben sind. Jetzt kämpfen wir zusammen.“
Von den 16 Deserteuren sind nur Ahmed und ‘Ali noch am Leben
Ahmed hat, wie jeder junge Mann, die Hoffnung nicht verloren und immer noch Träume. Er mag Krieg nicht und würde gerne mit einer Hilfsorganisation zusammenarbeiten, die syrische Flüchtlinge unterstützt. Doch er bezweifelt, dass er für solch einen Job qualifiziert ist.
„Es gibt nichts schlimmeres, als eine Waffe in der Hand zu halten und zu schießen. Aber das ist das Einzige, was ich meinem Land geben kann. Ich würde gerne zurück nach hause gehen und meine Eltern und Brüder umarmen. Ist es denn normal, dass ich meine Familie seit zwei Jahren nicht gesehen habe? Ich würde gerne bei Latakia im Meer schwimmen. Jeden Tag denke ich an mein Leben vor dem Krieg. Diese Tage werden niemals zurückkommen. Hier in der Türkei ist jeder alleine, isoliert und gefangen in seinem Leiden und Dasein als Flüchtling, weit weg von Familie und Zuhause. Mein einziger Traum ist es, zurück nach Hause zu gehen, zurück nach Syrien, zurück in mein Land.“
Ich höre nicht auf, ihn zu betrachten, während er raucht und lächelt. Heute ist er hier, sitzt in einem Restaurant, unterhält sich. Morgen wird er wieder kämpfen, als Scharfschütze, versteckt in den Bergen. Heute könnte sein letzter Tag in der Türkei sein. Es ist ihm bewusst und er ist nicht ängstlich. „Es kann sein, dass ich bereits tot bin, wenn der Film fertig ist“, sagt er lachend.
Übersetzt von Ansar Jasim.
Die englische Originalfassung findet sich hier.