Digitale Selbstverteidigung: App soll Syriens Bevölkerung vor Raketen schützen

Erstveröffentlicht: 
17.08.2013

Von Karin Assmann

Live-Feeds von der Front: Ein syrischer Software-Aktivist bietet Zivilisten digitale Hilfe gegen Scud-Raketen. Die Nutzer seiner App verfolgen die Kurzstreckenraketen bis zum Einschlag und sollen so frühzeitig erfahren, ob sie in Lebensgefahr sind.

 

"Scud-Rakete gerade abgeschossen. Fliegt in Richtung Norden. Aleppo. Noch 8 Minuten bis zum Ziel." Dlshad Othman war noch spät wach an jenem Montagabend. Es war der 25. Februar 2013 und wie so oft verfolgte er den Krieg daheim in Syrien über Twitter.

 

Die Meldung ließ den jungen Informatiker, der seit Monaten in einem Washingtoner Vorort auf Bewilligung seines Asylantrags wartete, aufhorchen. Freunde und Verwandte waren womöglich in Gefahr. "Dieser Tweet hat die drei Elemente, die man braucht, um eine Software zu bauen: Eingabe, eine Rakete ist in der Luft, Verarbeitung, sie braucht acht Minuten bis zum Ziel, und Ausgabe, die Menschen müssen gewarnt werden."

 

Aus der Analyse wird eine Plattform für Zivilisten, die keine machtlosen Opfer sein wollen und für Aktivisten, die sich damit als "Scud-Spotter" an der Rettung von Zivilisten beteiligen können. "Aymta" nennt er das Portal, übersetzt "wann". Wer sich registriert, soll eine E-Mail oder SMS erhalten, wenn Gefahr droht. Die Koordinaten der Rakete, das Ziel und die noch verbleibende Zeit - meist sind es Minuten - als Eilmeldung direkt auf den Rechner oder auf das Handy.


Sieben Tage Folter

Möglich ist das nur, weil Othman eine Gruppe von Spähern rekrutiert hat. Es sind Syrer, die ihre Beobachtungen in ein Programm eingeben, das ausrechnet, wann die Rakete wo einschlagen wird. Wieviele aufmerksame Informanten sich bei ihm einloggen, um die Koordinaten der Raketen live einzuspeisen, will er nicht sagen. Auch nicht, wer sie sind. Sie seien gut informiert, zuverlässig und technologieaffin. Der 27-Jährige will sein Netzwerk schützen, das digitale und das menschliche.

"Ein Fehler in der Datensicherheit und es endet tödlich", sagt Othman. Nach seinem Informatik-Studium an der American University of Beirut arbeitete er für die irakische Regierung am Aufbau ihres Kommunikationsnetzes. Als er 2008 zu Besuch nach Syrien zurückkehrte, wurde er verhaftet. Der allzu freundschaftliche Kontakt zu Ausländern hatte ihn ins Visier der Sicherheitsdienste gebracht. Wochenlang hielt man ihn fest. Sieben Tage und Nächte wurde er gefoltert.

"Darüber möchte ich nicht sprechen." Er lächelt traurig, schüttelt den Kopf. "Meine Freunde sagten damals zu mir: Nur sieben Tage, das ist doch nicht mehr als eine kleine Ohrfeige." Erst eine Flucht in den Militärdienst bringt ihm Sicherheit und, wie sich später herausstellen sollte, wichtige Einblicke in das Waffenarsenal der syrischen Armee. Als Artillerist sieht er dort zum ersten Mal eine Scud-Rakete.

Asymmetrischer Krieg der Zukunft

"Sie ist groß, dumm und tödlich. Ihr einziger Zweck ist es, zu töten und Angst zu verbreiten. Für mich ist es einfach auszurechnen, wohin sie fliegt. Meine Späher filmen sie manchmal sogar am Himmel." Sein Anti-Scud-Programm ist die High-Tech-Antwort auf konventionelle Waffen. Seitdem das System "live" geschaltet ist, haben sich etwa 5000 Nutzer angemeldet. Viermal kam es zum Einsatz, zweimal mit Erfolg.

"Normalerweise freut man sich über solch einen Erfolg, aber bei der Aymta-Anwendung kann man sich nicht freuen, denn sie zu benutzen bedeutet, dass ein Angriff stattfindet." Einmal, und das ist die Schwachstelle seiner IT-Lösung, hatte der Scud-Spotter keinen Strom, um seine Meldung ins System einzugeben. Auch ein neuer Kommentar auf seiner Facebook-Seite macht Othman nachdenklich: "Hat alles geklappt, ich habe die Warnung bekommen", schreibt eine Frau. "Nur wussten wir nicht, wohin wir fliehen sollten."

Ganz unantastbar ist sein System nicht. Vor zwei Wochen brach die Seite zusammen. Mehr als 11.000 Rechner hatten einen Überlastungsangriff gestartet, eine DDoS-Attacke. Aus der Ukraine, aus Russland, Iran und aus Indien. "Alles Länder", sagt Othman "in denen das syrische Regime Zugang hat und Leute rekrutieren kann". Zwei Tage lang braucht er, um neue Server zu finden und alles umzuschalten, dann ist er wieder bereit.

Der junge Informatiker sieht Aymta als technologische Demokratisierung des zivilen Selbstschutzes. Wer angreift und mit welchem Mitteln, ist ihm egal. Seine Hoffnung ist es, Frühwarnsysteme für jede Art von Angriff über Aymta freizuschalten. Was er zunächst braucht, sind allerdings mehr Späher. Nicht nur in Syrien, so Othman, säßen schließlich Menschen mit Zugang zu Radar- und Infraschallanlagen. Ein Klick genügt, und sie können mitmachen im asymmetrischen Krieg der Zukunft.