Neue Videos im Prozess um den Jenaer Jugendpfarrer Lothar König haben die Anklage wegen schweren Landfriedensbruchs zum Wanken gebracht - und für die Aussetzung des Prozesses gesorgt. Hielten Ermittler das Material bewusst zurück?
Von Julia Jüttner
Mehr als 160 Stunden Videomaterial haben am Dienstag für den großen Paukenschlag im Verfahren gegen den Jenaer Jugendpfarrer Lothar König vor dem Amtsgericht Dresden gesorgt: Der Prozess ist geplatzt, der Richter setzte das Verfahren aus.
Grund dafür sind Videos, die das Gericht Königs Verteidigern erst Ende Juni ausgehändigt hat. Sie wurden am 19. Februar 2011 bei der bundesweit größten Anti-Nazi-Demo in Dresden von Polizeibeamten gedreht - und sie entlasten den Seelsorger, der wegen schweren Landfriedensbruchs angeklagt war.
Die Filmsequenzen, die SPIEGEL ONLINE vorliegen, zeigen eine Szene aus zwei verschiedenen Perspektiven: einmal die Sicht der Polizei - so wie Ermittler sie der Akte beigefügt haben, und dann noch mal im Rohmaterial. Demnach ruft eine unbekannte Frau mit einem Megafon die Menschenmenge auf, Ketten gegen die Polizisten zu bilden. Kurz darauf kommt es zu Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Beamten. Nach Ansicht der Staatsanwaltschaft Dresden stammt jener Aufruf jedoch von König.
Dieser aber - das zeigt die gleiche Szene, aufgenommen von Königs Lautsprecherwagen - sitzt zur selben Zeit am Steuer des Lautsprecherwagens, der sich in der Mitte der Demonstranten befindet, und ruft: "Da hinten gibt es eine Auseinandersetzung der Polizei mit Demonstranten. Es werden Schlagstöcke, Knüppel eingesetzt, da muss man ein bisschen aufpassen!"
Es ist offensichtlich, dass zwischen Königs Durchsage und der Eskalation der Demonstranten im vorderen Bereich kein Zusammenhang besteht. Königs Worte beziehen sich auf die Menschenmenge hinter dem Lautsprecherwagen. Die Frau hingegen wendet sich mit ihrer Megafon-Ansage an die Demonstranten vor dem Lautsprecherwagen.
"Deckt die Bullen mit Steinen zu"
Erst am vergangenen Verhandlungstag hatte die Verteidigung von dem Filmmaterial erfahren: Ein Polizist hatte ausgesagt, es gebe etwa 200 Stunden Videomaterial vom gesamten Einsatztag in Dresden. Doch diese ungeschnittenen Aufzeichnungen waren nicht bei den Akten. Königs Verteidiger hatten sie daraufhin angefordert und mit denen verglichen, die die Anklage stützen sollen.
Diese Aufnahmen haben die Anklage gegen König nun ins Wanken gebracht: Dieser soll laut Staatsanwaltschaft an jenem 19. Februar zu Gewalt gegen Polizeibeamten aufgerufen haben. 3000 Rechtsextreme waren damals aufmarschiert, um der Bombardierung Dresdens 1945 zu gedenken, nach Angaben des Gewerkschaftsbunds hatten sich ihnen mehr als 21.000 Menschen entgegengestellt. Die Polizei sprach von 12.000 Gegendemonstranten. Der Seelsorger begleitete wie jedes Jahr Jugendliche der Jungen Gemeinde Jena, steuerte seinen blauen Lautsprecherwagen, einen VW-Bus, den er "Lauti" nennt.
Vom "Lauti" aus soll er laut Staatsanwaltschaft "gewaltbereite Linksautonome", "teilweise vermummte Menschen" "dirigiert" und zu Gewalt gegen Polizeibeamte aufgehetzt haben. "Deckt die Bullen mit Steinen zu", soll er ausgerufen, seine "herausgehobene Stellung" und maßgebliche Autorität genutzt haben, um Demonstranten zu "Gewalttätigkeiten" - auch mit "waffenähnlichen Gegenständen" - aufzupeitschen. Vorwürfe, die König vehement bestreitet.
Selbst die Anklagevertreterin musste am Dienstag einräumen, dass die neuen Aufzeichnungen König von einem der Tatvorwürfe entlaste. Es sei nicht auszuschließen, dass unter den mehr als 160 Stunden Rohaufnahmen weitere ähnliche Beweise zu finden seien, so die Staatsanwältin.
"Nicht jeder hat einen so großen Unterstützerkreis wie ich"
Bereits in der Vergangenheit hatten andere Aufnahmen König entlastet: Zuletzt präsentierten seine Verteidiger Videos - aufgenommen vom Dach des Lautsprecherwagens, den König lenkte. Auf einem ist zu sehen, wie sich ein mutmaßlicher Steinewerfer auf den fahrenden Transporter rettet und daran festhält. Mehrere Polizeibeamte verfolgen den Wagen, zwei stürmen heran, schnappen nach dem Flüchtenden. Einer von ihnen schlägt wie von Sinnen mit dem Schlagstock auf den Mann ein, trifft ihn in der Nähe des Kopfes und reißt ihn vom fahrenden Wagen fort. Eine Momentaufnahme, die für Entsetzen im Gerichtssaal sorgte. Gegen die beiden Polizeibeamten wird seither wegen "Körperverletzung im Amt" ermittelt.
Verteidiger Johannes Eisenberg sagte am Dienstag, die Ermittler hätten sich verhalten wie in einer "Fälscherwerkstatt", stellte Strafanzeige gegen einen Polizisten wegen des Verdachts der Verfolgung Unschuldiger - und beantragte auf Basis des neuen Materials die Aussetzung des Verfahrens. Unter diesen Bedingungen sei kein faires Verfahren möglich, die Sichtung des Materials dauere noch Monate. Der Richter folgte dem Antrag.
Wie es weitergeht, ist völlig offen. Das Gericht muss jetzt prüfen, ob es noch Grundlagen für ein Verfahren gegen König sieht - und ob das Verfahren dann neu aufgerollt oder eingestellt wird. Königs Anwältin Lea Voigt kündigte an, die Verteidigung werde die Einstellung des Verfahrens beantragen.
König selbst war am Dienstag zwar erleichtert, aber längst nicht in Feierlaune. "Nicht jeder hat einen so großen Unterstützerkreis wie ich und kann sich entsprechend gegen solche Vorwürfe wehren", sagte er. Viele Menschen ohne solchen Bekanntheitsgrad und Rückhalt würden "regelmäßig wegen ihres Protests mit drakonischen Strafen überzogen".
König hat im Moment nur einen Wunsch: Er will seinen "Lauti" zurück. Der Richter sagte ihm, er könne schon mal den entsprechenden Antrag stellen.
Video hier ansehen: Steinewerfer hält sich am Lautsprecherwagen fest