Nach 1989 erfuhr die kritische Theorie aufgrund der Krise des Marxismus unter Linken eine ungeahnte Renaissance und mit ihr Adornos Versuch, Freud für eine kritische Gesellschaftstheorie in Beschlag zu nehmen. Die Psychoanalyse erscheint ihren Liebhabern vielfach als letzte und höchste Stufe der Aufklärung, indem sie dem Bewusstsein entzogene Bereiche des eigenen Selbst dem Bewussten zugänglich macht und es so als Herrn im eigenen Haus einsetzt. Doch wenn irgendwo die Rede von der „Dialektik der Aufklärung“ am Platz wäre, dann hier.
Deutlich wird dies etwa an der im späten Kaisserreich popularisierten Kategorie der „unbewussten Homosexualität“, die bis in die Weimarer Republik anhaltende Erschütterungen und kritische Selbstbefragungen vor allem in der deutschen Jugendbewegung auslöste. Sie vermittelte das Bild, dass „Homosexualität“ eine über die unmittelbaren Handlungen und Gefühle hinausgehende tiefere Bedeutung für die Enträtselung der Seele habe. In diesen durch die Psychoanalyse losgetretenen Strudel aus Angst und Unsicherheit geriet in den frühen 20er Jahren auch die Liebesbeziehung zwischen dem 19-jährigen Theodor W. Adorno und seinem 34-jährigen Mentor Siegfried Kracauer. Diese sorgfältig vor der Umwelt verheimlichte Erfahrung, die erst unlängst durch die Veröffentlichung des einschlägigen Briefwechsels einer breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden ist, führte Adorno in den folgenden Jahrzehnten allerdings nicht zu einer Kritik an den homophoben Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft, sondern zu deren blindwütiger Affirmation.
Die Psychoanalyse gerät ihm dabei zum wichtigsten Werkzeug der Verdrängung, indem sie ihm die unkontrollierte Deutungshoheit über das Seelenleben des Anderen in die Hände legt. Wer selber analysiert, ist nicht der Analysand. Er ist der unmarkierte Beobachter. Adornos Skizzen zu dem Thema sind dabei weniger in Absicht einer kritischen Auseinandersetzung mit ihm als Autoren von Belang, sondern als objektive Quelle für den Wandel von Homophobie von den 20er bis zu den 60er Jahren. Von seiner in einem frühen Brief an Kracauer artikulierten Befürchtung, für einen „Homosexuellen“ gehalten zu werden, über das in der Dialektik der Aufklärung aus der stalinistischen Propaganda übernommene und psychoanalytisch umgedeutete Bild des Faschismus als Form „paranoider Homosexualität“, bis zu seinem sozialdemokratischen 60er-Jahre-Plädoyer für die Toleranz gegenüber dem homosexuellen „Neurotiker“, ist Adorno wie vielleicht kein zweiter dazu prädestiniert, in seiner konformistischen Verdopplung der Zeit die Grundlage für eine kleine Geschichte der Homophobie im 20. Jahrhundert und vor allem der Rolle der Psychoanalyse darin zu liefern.
Vortrag von Georg Klauda
03.07.13 - 18:00 Uhr
Ort: FSU Carl-Zeiss-Straße 3, HS 8
Der Vortrag wird vom Referat gegen gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit des StuRa an der FSU Jena in Kooperation mit der Antifaschistischen Aktion Jena veranstaltet.