Die Besetzung des Rundfunkgebaeudes, die Belagerung des Vorplatzes vor dem Rundfunkgebaeude und die massive Mobilisierung der Bevoelkerung gegen die ueberfallsartig durchgefuehrte Schliessung des Fernsehens/Radios haben eine Bewegung hervorgebracht, die vieles uebertrifft, was in den vergangenen Jahren stattfand, zahlenmaessig und an Radikalitaet. Radikale Parteien und Gruppierungen sind hier ebenso prasent, wie der radikal-pragmatische Syriza (dessen Wahlsieg zu wuenschen ist) und, sie sei wohl unterschieden, die KKE, aber auch KKM-ML und ML-KKE, aber auch EEK und besonders SEK, welch letztere ueberall plakatieren, die Entlassung Samaras‘ fordern und Veranstaltungen/Diskussionen abhalten.
Die aktive Teilnahme aelterer und neuerer Schichten aus dem Proletariat auf den grossen Versammlungen vor dem Rundfunkgebaeude und (besonders aelterer) Angehoeriger der verarmten Massen (ein alter Mann, der dort campierte, ist bereits, nicht aus Fremdeinwirkung, vor einigen Tagen auf dem besetzten Gelaende vor dem Rundfunk gestorben, o protos nekros, "der erste Tote", so wurde seiner in einer Rede gedacht)), sowie andererseits gleichzeitig der intellektuellen Mittelschichten, der progressiven, urbanen Bevoelkerung (hier haben wir ein interessantes Pendant zu Taksim!) ist bemerkenswert. Hier bildet sich einen grosse informelle Volks-Front heraus.
Die ERT ist ein Beispiel, wie ein wesentlicher Teil der Zivilgesellschaft (im Sinne Gramscis) zerschlagen wird, wogegen sich die Zivilgesellschaft, aber auch die laika stromata (unteren, breiten Volksschichten in der Terminologie der KKE) zur Wehr setzen, die den oeffentlichen Rundfunk/das Fernsehen, als Oeffentliches Gut, verteidigen, und zurecht verteidigen, da die progessive Dynamik der Gesellschaft auch in das herrschaftskonsolidierende Gestaenge der ERT eringedrungen ist und sich dort weite Freiraeume von Diskurs erobert hat. Die KKE hat allerdings grosse Vorbehalte gegen eine blauaeugige Unterstuetzung der ERT als eines Instruments der buergerlichen Herrschaftssicherung – die Argumentation scheint mir falsch zu sein, kann aber an dieser Stelle nicht ausfuehrlich behandelt werden.
Von den TechnikerInnen, RedakteurInnen und JournalistInnen wurde die ERT (Fernsehen und Radio) in Eigenregie uebernommen, praktisch das gleiche Modell wie bei bio.me , oder bei der jetzt ueberall erhaeltlichen Tageszeitung ”Zeitung der Redakteure” (Efimerida ton Sintakton), die in Selbstregie aufgebaut wurde, als die grosse progressive Eleftherotipia abgewuergt wurde (die jetzt aber wieder weiter erscheint).Eine neue Selbstverwaltung von riesigem Ausmass – auch wenn man das Gebaeude in betracht zieht.
Samaras hat das Ganze in Alleinregie in die Wege geleitet, ohne seine Koalitionspartner zu benachrichtigen, von denen einer, wie bekannt, jetzt bereits abgesprungen ist: die Partei „Demokratische Linke“, DIMAR), das halbfaschistische Kommunikationsverbot des ND-Bosses wurde aber, und das ist das Unglaubliche, von der faschistischen Partei unterstuetzt, als einziger Partei, die sich explizit hinter die von der ND ohne jegliche vorherige Diskussion aufgezwungene Schliessung stellte.
Die Regierung aus Sozialdemokraten und ND wird also von den Faschisten mitgetragen. Keine klarere Diskreditierung von Sozialdemokratie ist denkbar.Den Sozialdemokratien muss daher international die Gefolgschaft aufgekuendigt werden!
Wie sieht‘s aus im Innern?
Im besetzten Hauptgebaeude der ERT (Elliniki Radiofonia Tileorasi) traf ich im ersten Stock, in der Kantine, den stets aufgescheuchten Theatermann und Kulturmanager Michalas, mitten in dieser Athmosphaere unendlich verstaerkter Bemuehtheit und Sozialitaet.
Ein Werk des Samaras' . Wir sind diesem toelpelhaft und zuschlagegierig agierenden Ministerpraesidenten (dessen Parteigebilde, ebenso wie die blutruenstige AKP des Erdogan, letztere allerdings “nur” mit Beobachterstatus, der Europaeischen Volkspartei angehoert!!!) ja eigentlich dankbar, dankbar fuer seinen ueberfallsartigen Liquidierungsversuch - und mit “Staatsstreich”, “Coup” (d’ Etat) wird er allgemein in der linken Pressesprache Griechenlands bezeichnet.
Er hat ein hyperproduktives Ameisengekrabbel hervorgebracht, in dem, wie in Vio.Me, wie in den kollektiven Speise- und Begegnungsstaetten, wie in selbstverwalteten Zeitungen eine kuenftige Gesellschaftsform eingeuebt wird.
Michalas hatte ich bereits auf dem Alter Summit kennengelernt, er wollte mich fuer eine literarische Parallelveranstaltung gewinnen. Er haette Gedichte des ueberragenden paederastischen Poeten Kavafis auf griechisch vorgetragen, vorgelesen, vorgespielt, ich auf deutsch. Haette. Doch das Programm des Alter Summit war zu dicht, wir einigten uns auf ein Treffen nach dem Alter Summit. Jetzt, hier im Rundfunk-und Fernsehgebaeude, ist an das literarische Projekt nicht mehr zu denken. Mit hoechster Spannung und Anstrengung ist von Michalas und seinen Kollegen eben eine Dokumentation ueber die Ereignisse fertiggestellt worden.
Dokumentationen sind eine der Staerken der ERT, jeden Tag wurde im Durchschnitt ein Dokumentarfilm hergestellt. Das war in der Zeitung zu lesen, das bestaetigte mir auch eine Sprecherin der Abteilung fuer Dokumentarfilme, Marion Bitsola, die ich im internationalen Presseraum kennenlernte und die perfekt deutsch spricht: Darauf (auf eine Produktion taeglich) duerfte es in der letzten Zeit so ungefaehr hinausgelaufen sein, meinte sie. Mehr US-amerikanische Killerfilme und weniger Volksbildung waeren dem schwarzen Fuersten Samaras wahrscheinlich lieber, haertere Knebelvertraege mit den US-Amerikanern wohl auch.
Leicht hat es Michalas Thanos-Orpheus, wie er mit vollem Kuenstlernamen heisst nicht, hat es seine Crew nicht. Sie sind technisch verwaist. Was ist passiert?
Zwei riesige Gebauede machen den Komplex der ERT aus, die in einem unendlich weit entferten Vorort liegt, an den schon unten gruene, oben kahle Huegel grenzen (die innerste Wesensverwandtschaft des Samaras-Coups – praxikopima – wie er speziell genannt wird, mit den Waldzerstoerungen durch verschiedene griechische, auch tuerkische Mafien, wird mir hier blitzartig klar), und in einem dieser Gebaude befanden sich unter anderem die Kameras.
Berge privatisieren und Rundfunkgebaeude anzuenden, das laeuft auf das Gleiche hinaus.
Aber man macht, was man kann. Nachdem man das jetzt noch besetzte Hauptgebaude noch nicht stuermen kann, nimmt man den Leuten ihre Arbeitsgeraete weg. Vor 7 Tagen, also etwas mehr als 5 Tage nach dem Coup, hat die “griechische” Polizei saemtliche Geraete beschlagnahmt, das andere Gebaude, in denen sie sich befinden, ist hermetisch abgeriegelt.
Mit einem Minimum an Geraten zu arbeiten, ist schwer. Die Geraete konnten sich nicht wehren. Hier wuerden sich die Leute wohl wehren. Wuerde die Polizei in das besetzte Gebaude eindringen, in dem ich mich gerade befinde, waere halb Athen auf der Strasse.
Denn das waere dann die Erdogan-Option!
Oder werden sie stufenweise vorgehen? Man kann sich vorstellen, wie sie beginnen. Zuerst werden sie die Leute aus dem Schlafsack-Lager jagen, das sich in einer Art Park vor dem Gebaeude ausgebreitet hat. Das waere dann eine sanftere Stufe auf die Art der volksfeindlichen Kommunal-Politik des von einer gruenen (!) Partei und der Dimar gewahlten Buergermeisters Kaminis, der den Syntagma-Platz von den “haesslichen Zelten” raeumen liess (1). Vielleicht ist in dem Augenblick einer solchen Teil-Raeumung das ERT-Gelaende ueberfallssartig bereits privatisiert worden, und die Campierer bekommen einige Strafen wegen Besitzstoerung u. dgl.
Auf einmal werden sie vielleicht nicht alle herausjagen, sie werden stufenweise vorgehen, denke ich mir, einem antiquierten Denken verpflichtet. Oder doch nicht? Der Wirtschaftsminister hat die Besetzerinnen, unter deren Aegide das Programm selbstverwaltet, ohne staatlichen Sanktus, weiterlaeuft, bereits aufgefordert, das Gebaeude zu verlassen ...
Unsicherheit regiert in dem Gebaeude. Zumindest werden sie wieder und wieder versuchen – wie es bereits passiert ist – Leute fuer ΝΕRΙΤ, den geplanten, “verschlankten” Nachfolgesender, der die zu zerschlagende ERT ersetzen soll, zu gewinnen. Im September soll bereits eine Ausschreibung erfolgen. Bisherige Versuche dieser Privat-Hyaenen, in das ERT-Gebaeude zu gelangen, wurden vom bewussten Personal wuetend abgewehrt, wie in einer Pressemitteilung des Vereins der Ingenieure und Techniker der ERT vom 17. Juni zu lesen ist (2):
“Die Marionetten der Privatinteressen und der Regierung sollen es nicht wagen, hierher in die ERT zu kommen:
Wahrend die Erinnerung an den staatsstreichaehnlichen Ueberfall (praxikopima) und das Black-out der ERT noch ganz frisch ist, sind einige fuehrende “Kollegen” aus dem Coup-Bereich hierher ins Rundfunkgebaeude gekommen, haben sich an einige unserer Techniker herangemacht und wollten sie fuer die NERIT (das verschlankte Nachfolgeprojekt, AuO) gewinnen. Da haben sie sich aber ein kraeftiges Nein eingehandelt ... Es waere gut, wenn diese Herrschaften nicht noch einmal versuchen wuerden, ihren Fuss in die ERT zu setzen. Die Leute sind veraergert (3), die Belegschaft ist verbittert, veraergert und fuehlt sich verkauft . Viele von diesen Herrschaften haben ueberhaupt noch nicht verstanden, was sie angerichtet haben. Das grosse Problem von Menschen mit einer faschistischen Mentalitaet ist ja gar nicht so sehr, dass sie Gegner der Demokratie sind. Sie VERSTEHEN einfach nicht, was Demokratie ist! Und wenn man aufgebracht und grob wird, dann ist es verstaendlich, wenn mitten in den permanenten Auseindersetzungen zum staerksten Mittel gegriffen wird. Unser Verband raet dazu, kuehles Blut zu bewahren, aber er kann die Wut der Menschen und deren Folgen nicht kontrollieren. …”
Wie ich so im internationalen Peresseraum sitze, kommt eine sehr traurige Frau herein. Sie hat hier vorher gearbeitet, am 1. Juni bekam sie noch ihr Gehalt (das in den letzten drei Jahren von etwa 1.300 Euro netto auf ein Drittel gekuerzt wurde, am 11. Juni kam die ploetzliche und unerwartete Mitteilung ueber die Schliessung, am 15. Juni (es wird alle zwei Wochen ausgezahlt) kam ueberhaupt kein Geld mehr!
Wie viele, irrt sie ein wenig umher in dem grossen Gebaeude, steht noch unter Schock, kann es alles noch nicht begreifen. Sie erinnert michein wenig an die lange noch fassungslosen Hochwasseropfer von vor zehn Jahren, und an die jetzigen Hochwasseropfer.
Das ist die Politik der EuropaeischenUnion!
(1) Aug und Ohr: Weg mit den Zelten und Hütten am Syntagma-Platz! U. a. in: Linksunten, 20. 7. 2011
https://linksunten.indymedia.org/de/node/43874
(2) ΠΑ.ΣΥ.ΜΗ.ΤΕ – Πανελλήνιος Σύλλογος Μηχανικών και Τεχνικών Ε.Ρ.Τ (Verein der Ingenieure und Techniker der ERT)
http://www.pasimite.gr/
ΑΝΑΚΟΙΝΩΣΗ (Kundmachung), 17.6.2013
http://www.pasimite.gr/index.php?option=com_content&view=article&id=206:-1762013&catid=42:anakoinoseis&Itemid=226
Unterzeichnet vom Vorsitzenden des ΠΑ.ΣΥ.ΜΗ.ΤΕ Stephanos Chatzakis sowie der Generalsekretaerin Anastasia Timotheou.
Verlinkt mit pasimite.gr/ ist die Petition der European Broadcasting Union (Europäischen Rundfunkunion), mit der der griechische Ministerpraesident aufgefordert wird, die Einstellung wieder rueckgaengig zu machen. Wir geben hier den englischen Text wieder und meinen, dass solcher elektronischer Petitionismus das Minimum an Solidaritaetsarbeit sein sollte! Hier der Text:
“We, the general public and supporters of public service media, join the European Broadcasting Union (EBU) in expressing our profound dismay at the action taken by the Greek Government on Tuesday, 11 June in shutting down ERT with immediate effect. This undemocratic and unprofessional action of the Greek government undermines the existence of public service media inGreeceand its independence from the government. For that reason, we strongly urge the Greek Prime Minister to immediately reverse this decision, allowing ERT to go back on the air inGreece.”
Den Appell unterschreiben kann man unter folgender Adresse:
http://www.avaaz.org/en/petition/EBU_Petition_Get_ERT_back_on_air
Die EBU hat die Aussendungen der ERT, der Streik-ERT, bisher solidarisch uebernommen.
(3) aganaktismenoi, Pendant zu indignados.