Breite demokratische Bündnisse für die Lösung der kurdischen Frage

Ronahi

Ein Interview der Zeitschrift Ronahi mit einem Vorstandsmitglied des Verbandes der Studierenden aus Kurdistan - YXK e.V.

Die Regierung ist jetzt am Zug, ansonsten treiben wir die Demokratisierung der Türkei und die Befreiung Kurdistans ohne sie voran.

Das folgende Interview führte die Redaktion der Ronahî (Vebandszeitschrift des Verbands der Studierenden aus Kurdistan – YXK e.V.) mit einem YXK-Vorstandsmitglied am 23.06.13.

 

Roj baş, kommen wir gleich zur Sache. Kannst du uns bitte kurz erläutern, wie ihr als Vorstand der YXK die aktuelle politische Lage einschätzt?!

 Natürlich, gerne. Das Jahr 2013 hat mit dem İmralı-Prozess sehr hoffnungsvoll begonnen. Dieser Prozess hat viele Schritte historischer Tragweite mit sich gebracht, die wir in der Vergangenheit so nicht hatten. Abdullah Öcalan wurde zum Schluss des Hungerstreiks im September 2012 als politischer Akteur anerkannt und steht im Zentrum des Prozesses. Die Öffentlichkeit wird auf diesen Prozess vorbereitet, das Parlament wurde – bisher unzureichend – eingebunden. Die historische Erklärung Öcalans zum Newroz-Fest und der Rückzug der Guerilla sind zwar sehr gewagt, aber bieten nun die Chance auf eine lang anhaltende politisch-friedliche Auseinandersetzung. Klar ist, dass dieser Prozess nicht das Ende, sondern der Beginn von etwas Größerem sein könnte.

 

Wir als Zivilgesellschaft haben die historische Möglichkeit den Raum zu füllen, den der Krieg hinterlässt und eine Lösung der kurdischen Frage durch einen Frieden herbeizuführen. Die Taksim-Proteste zeigen, dass auch die Menschen in der Türkei bereit für einen gesellschaftlichen Wandel sind. Es liegt nun an uns, zu entscheiden, in welche Richtung dieser Wandel stattfinden soll. Die Formel „demokratische Türkei = freies Kurdistan" ist aktueller denn je. Diese Lösungsperspektive müssen wir verstehen und dann konsequent umsetzen. Die Taksim-Proteste haben auch deutlich gemacht, dass uns die Hauptrolle der Zivilgesellschaft in der politischen Auseinandersetzung noch fremd ist und wir einige Zeit gebraucht haben, um zu reagieren. In Zukunft wird noch mehr Eigeninitiative von allen Beteiligten nötig werden.
Ob der aktuelle İmralı-Prozess auch ein Friedensprozess werden wird, können wir heute noch nicht genau sagen. Direkt in der zweiten Januarwoche haben Kräfte, die wahrscheinlich dem tiefen Staat zugerechnet werden können, die Pariser Morde verübt. Diesen Anschlag auf den Prozess dürfen wir nicht vergessen! Die kurdische Bewegung sowie Abdullah Öcalan haben ihre Vorschläge für einen möglichen Verlauf eines Friedensprozesses vorgelegt. Von der Regierung haben wir bisher halbherzige Schritte bis kontraproduktive Politik gesehen. Sie ist jetzt am Zug, ansonsten treiben wir die Demokratisierung der Türkei und die Befreiung Kurdistans ohne sie voran.

 

Wo seht ihr in diesen Entwicklungen die Rolle der kurdischen Studierenden in Europa?

Es ist nun an uns, mehr Druck aufzubauen. Zum einen natürlich Druck auf unsere politischen GegnerInnen. Der Regierung muss über eine breite Gegenöffentlichkeit hier in Europa vermittelt werden, dass die Demokratisierung und die kurdische Frage nicht verhindert oder länger verschoben werden können. Konstruktiven Druck müssen wir aber auch unseren potentiellen BündnispartnerInnen für eine gemeinsame demokratische Politik machen. Wir müssen sie dazu bringen, sich zu uns zu positionieren und nicht wie in der Vergangenheit die kurdische Frage auszublenden. Momentan stellen wir auch ein Bedürfnis bei den linken und demokratischen, türkischen und deutschen Kreisen fest, die sich der kurdischen Bewegung öffnen. Die Rolle der YXK wird in dieser Phase des Freiheitskampfes noch wichtiger, das sehen wir ganz deutlich daran, dass die Nachfrage nach ReferentInnen, ÜbersetzerInnen, AktivistInnen aus unseren Reihen stetig steigt. Wir gehen breite Bündnisse mit DemokratInnen bis Linksradikalen ein, in diese Bündnisse müssen wir die kurdische Frage und unsere Perspektiven hineintragen. An dieser Stelle gilt es auch in der eigenen Bewegung einen gewissen Druck zu erhöhen und uns als Studierende Gehör zu verschaffen, damit diese Politik anerkannt wird.
Die Jugend kann die treibende Kraft im Prozess der Annäherung linker und demokratischer Kräfte sein und die Gesellschaften zusammenführen. Dazu brauchen wir ideologischen, politischen und organisatorischen Freiraum, den wir selbst gestalten. Die fortschreitende europaweite Organisierung der YXK ist ein wichtiger Schritt in diese Richtung.

 

Wie wollt ihr diese Perspektive in die politische Praxis umsetzen?

Bereits letztes Jahr wurden wertvolle Schritte in diese Richtung unternommen. Die demokratik güc birligi platformu (Demokratische Bündnis-Plattform: Zusammenschluss alevitischer, türkischer und kurdischer, linker und demokratischer Organisationen; Anm. der Redaktion) hat sich ja gegründet. Die Plattform hat auf die Taksim-Proteste zügig antworten können, aus ihr ist dann auch das Aktionsbündnis „Taksim ist überall und überall ist Widerstand" hervorgegangen, dem weitere Gruppen dieses Spektrums angehören, aber auch deutsche linksradikale Zusammenschlüsse wie das Blockupy-Bündnis oder die Interventionistische Linke. Diese Kreise haben wir als kurdische Bewegung in der Vergangenheit kaum erreichen können und haben uns sehr schwer damit getan. Die Diskussionen in der Plattform zeigen auch, dass wir erst ganz am Anfang mit diesen Bündnisarbeiten stehen und noch ein weiter Weg vor uns liegt.
Es besteht der Wunsch als Jugendorganisationen, die bereits in der Plattform oder dem Bündnis vertreten sind, eine eigene Jugendplattform zu bilden. Von dieser Initiative erhoffen wir uns, die Entwicklungen längerfristig zu verfolgen und nicht von dem diplomatischen Kalkül der Mutterorganisationen oder ihrer teilweisen Trägheit abhängig zu bleiben.
Um diesen Prozess anzuschieben und den inhaltlichen Diskussionen Raum zu geben, würden wir gerne mit verschiedenen Jugendorganisationen eine Jugend-Konferenz im Herbst vorbereiten. Die Themen, welche uns momentan vorschweben sind die Lösung der kurdischen Frage, die Demokratisierung der Türkei sowie die Rolle der Jugend in Europa bei diesen gesellschaftlichen Prozessen. Angedacht sind der 9. und 10.11.13 in Hannover, aber da müssen wir schauen, ob wir diese Vorstellungen einhalten können.
Wichtig und in diesem Zusammenhang zu denken ist die Demonstration „Friedensprozess unterstützen – PKK-Verbot aufheben", die anlässlich des 20. Jahrestages des PKK-Verbots am 23.11.13 in Berlin stattfinden soll. Zu dieser Demo zu mobilisieren wird unter anderem Aufgabe der YXK sein. Diesbezüglich haben wir diese Woche eine Veranstaltungsreihe begonnen, die den İmralı-Prozess thematisieren und die Vorstellungen der kurdischen Bewegung erklären soll.
Diese ganzen Arbeiten müssen gemeinsam gedacht werden, sodass sie in einem Prozess ineinander greifen und sich gegenseitig stützen.

 

Deine Ausführungen machen deutlich, dass ihr auf breite Bündnisse mit deutschen, türkischen, alevitischen, demokratischen und linken Kreisen setzt. Jedoch haben viele AnhängerInnen der kurdischen Bewegung skeptisch auf die Taksim-Proteste oder sogar den Friedensprozess reagiert. Auf der anderen Seite zögern nach wie vor viele DemokratInnen und Linke, sich gegenüber der kurdischen Bewegung klar zu positionieren.

Ja, das stimmt. Auf der anderen Seite allerdings sind die Demokratische Bündnis-Plattform und das Aktionsbündnis „Taksim ist überall und überall ist Widerstand" neue Entwicklungen, die zeigen, dass das Bedürfnis verschiedener demokratischer Kräfte, sich untereinander zu vernetzen und gemeinsam zu arbeiten, vorhanden ist und in konkreter Politik Ausdruck findet. Letztes Jahr hat diese längst überfällige Annäherung begonnen und wir sind bis heute schon ein gutes Stück voran gekommen. Momentan geht es darum, sich gegenseitig kennenzulernen und Vertrauen zueinander zu schaffen. Gerade in den Taksim-Protesten können wir Gemeinsamkeiten entdecken und dann zusammen Forderungen vertreten. Egal ob in Europa, der Türkei oder dem ganzen Mittleren Osten geht es doch jetzt vor allem darum, dass sich die Gesellschaften, die lange Zeit durch staatliche Politik getrennt und aufeinander gehetzt wurden, kennenlernen und respektieren.

Gerade als YXK sollten wir in dieser Hinsicht vorsichtig und konstruktiv arbeiten. Es gibt noch viele Kräfte im Staat, in der Gesellschaft, aber auch in unseren eigenen Reihen der demokratischen Kreise, die eine gegenseitige Annäherung ablehnen und versuchen zu sabotieren. Diese Sabotageversuche zeigen sich am deutlichsten in den sozialen Netzwerken im Internet. Dort fallen dann die Masken und Vorurteile, Halbwissen und blanker Hass werden sich gegenseitig entgegengebracht. Dagegen müssen wir als demokratische Jugendorganisationen eine respektvolle und konstruktive Politik richten.
Die kurdische Freiheitsbewegung hat deutliche gemacht: An Azadî, An Azadî! (Kurdisch: Entweder Freiheit oder Freiheit!; Anm. der Redaktion) Es ist die Zeit eine Lösung der kurdischen Frage herbeizuführen, mit oder ohne den Staat. Wenn wir allerdings eine einseitige Lösung gegen die Regierung durchsetzen wollen, sind wir mehr denn je auf breite gesellschaftliche Bündnisse und eine Akzeptanz der eigenen Lösungsvorschläge in der Bevölkerung der gesamten Türkei angewiesen. Langfristig wird es ohnehin kein freies Kurdistan ohne eine demokratische Türkei, ein demokratisches Syrien, einen demokratischen Irak und einen demokratischen Iran geben können. Die gesamte Region muss sich verändern. Heute sind wir auf einem guten Weg, allerdings erst ganz am Anfang. Die KurdInnen können durch ihre langjährigen Erfahrungen, ihre überzeugenden Ideen, ihre entschlossene Bewegung und nicht zuletzt ihre unglaublich rebellische Bevölkerung auf diesem Weg eine entscheidende Rolle spielen. Es ist nun an uns, diese Perspektive denjenigen zu vermitteln, die uns noch skeptisch gegenüber stehen, und sie davon zu überzeugen, dass unsere Vorschläge ein Gewinn für alle Unterdrückten der gesamten Region bedeuten können.