Am 17. Juni 1953 war die DDR noch nicht einmal vier Jahre alt. Und doch
war sie politisch bereits am Ende.« So beginnt die Rede von
Bundeskanzlerin Angela Merkel am 17. Juni 2013 auf der offiziellen
Gedenkveranstaltung in Berlin. Was sie nicht sagt: Daß es das Dritte
Reich der Hitlerfaschisten war, das da seit noch nicht einmal neun
Jahren zu Ende war. Allerdings nicht politisch: Diejenigen, die
Konzentrationslager und Verfolgung überlebten, sollten nun mit denen,
die beim großen Völkermorden geschwiegen oder mitgemacht haben, ein
neues Deutschland aufbauen. Im Westen wurde mit Care-Paketen und
Marshall- Plänen rasch das kapitalistische System restauriert, das sich
bewußt in die Rechtsnachfolge des Dritten Reiches stellte. Im Osten
sollte aus den Ruinen ein anderes, ein sozialistisches Deutschland
auferstehen, trotz gewaltiger Reparationszahlungen und Kaltem Krieg. In
nicht einmal vier Jahren?
»Die Bilder vom Volksaufstand in der DDR blieben unvergessen«, sagt Frau
Merkel auf der Gedenkveranstaltung. Dieses Bild meint sie nicht: Das
schwer zerbombte brandenburgische Rathenow, eines der Zentren der
Unruhen vom 17. Juni 1953. Tausende auf den Straßen, der friedliche Teil
der Kundgebung ist beendet. »Du Schwein, Du Verräter, Dich müßte man
aufhängen«, wird gerufen, als der Arbeiter und Kommunist Wilhelm
Hagedorn dort seinen Arbeitsplatz bei der HO verläßt, »hängt ihn auf,
den Hund! Schlagt ihn tot!« Dabei wird Hagedorn bespuckt, geschlagen,
getreten. »Ein älterer Mann (…) sollte an einem Blitzableiter erhängt
werden.
Er schrie und wehrte sich. Er blutete am Schädel. Ein Auge schien aus
der Kopfhöhle zu hängen«, berichtet ein Augenzeuge später. Als Tatort
wählt man das Haus der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft. Es erscheint
aber »zu aufwendig«, Hagedorn kann sich losreißen. Er wird von Genossen
in eine Molkerei gezogen, sie holen einen Krankenwagen für den
Schwerverletzten.
Doch der Krankenwagen wird von der Menge nicht durchgelassen. Hagedorn
wird herausgezogen. Unter ständigen Schlägen und Tritten treibt man den
blutüberströmten Mann Richtung Havelschleuse. »Ertränkt das Schwein!«,
wird gerufen. Hagedorn bricht zusammen, Männer schleifen ihn trotz
gebrochener Rippen und Schädelverletzungen zum Hafen. Dort will man ihn
zwingen, sich selbst zu richten, ins Wasser zu springen. Er fällt in die
Tiefe. Aber Hagedorn taucht immer wieder auf, schreit, holt Luft. Da
setzen zwei junge Männer mit einem Ruderboot nach, schlagen ihn mit dem
Ruder auf den Kopf, tauchen ihn lange unter Wasser. Halbtot gelangt
Hagedorn trotzdem an das andere Ufer, Volkspolizisten ziehen ihn an
Land. »Russenknechte, Russenknechte«, skandiert die gaffende Menge. Die
Rettung kommt zu spät, im Krankenhaus erliegt Wilhelm Hagedorn nur kurz
danach den schweren Verletzungen: Rippenbrüche, Schädelbasisbruch,
Gehirnerschütterung, gebrochene Nase, Schlüsselbeinbruch… (Verlauf
zusammengestellt aus diversen Aussagen und Berichten).
Man tat einiges dafür, solche Bilder vom 17. Juni 1953 vergessen zu
machen. Auf dem Rathenower Friedhof gab es ein Familiengrab der
Hagedorns. Auf dem schlichten Grabstein stand neben Familiendaten nur:
»Menschen, ich hatte euch lieb. Seid wachsam! « Ein Zitat aus der
»Reportage unter dem Strang geschrieben« des tschechischen Kommunisten
Julius Fucík, der von den Nazis 1943 in Berlin- Plötzensee umgebracht
wurde. Das sei ein Stein des Anstoßes, hieß es.
Deshalb wurde er 1997 von den Behörden entfernt, das Grab eingeebnet.
Der verantwortliche Denkmalschützer verband die Entscheidung mit der
Empfehlung, in Schulen und Medien über »Totalitarismus und
Gewaltherrschaft« zu diskutieren. Ein zuvor befragter Experte meinte,
die Gedenkfunktion würde wegfallen, weil Hagedorn offensichtlich ein
politischer Verbrecher sei. Ähnliches erfährt man aus einer den Tätern
wohlgesonnenen Reportage des Deutschlandradios vom 17. Juni 2003, wo
kommentarlos aus der Niederschrift eines Zeitzeugen zitiert wird:
»Dieser ›Mensch‹ Hagedorn war nachweislich ein Denunziant«. Der Mensch
in Anführungszeichen gesetzt: Hagedorn ist nur scheinbar einer, die Tat
wiegt also nicht schwer. Auch die meisten anderen der wenigen
Medienberichte finden für die Lynchmörder viel Verständnis. Hagedorn war
seit 1920 Kommunist, im Rotfrontkämpferbund, 1933 im KZ und nach 1945
SED-Mitglied, für die Volkspolizei tätig und aktiv bei der
Entnazifizierung in Rathenow, arbeitete dabei mit den Sowjetbehörden
zusammen. Er habe damit geprahlt, über 300 Menschen denunziert zu haben,
wird behauptet; mal sei das in einer Kneipe gewesen in angetrunkenem
Zustand, mal bei einer Parteiversammlung. Der politische Verbrecher war
jedenfalls er. Denn der Westberliner Hetzsender RIAS hatte Wilhelm
Hagedorn schon vor dem 17. Juni 1953 über den Äther als »Spitzel «
gebrandmarkt.
Die DDR war an jenem Junitag im Sommer 1953 nicht am Ende, sondern stand
politisch wie wirtschaftlich am Anfang. Das Schicksal des Genossen
Wilhelm Hagedorn wie alle widersprüchlichen Umstände dieses Tages
erinnern daran, unter welch harten Bedingungen das andere Deutschland
aufgebaut werden mußte. Am Ende war die DDR erst im November 1989. Da
war es nicht mehr nötig, zum Totschlagen der Kommunisten aufzurufen.