Behrooz Abdolvand und David Ramin Jalilvand in Blätter für deutsche und internationale Politik
In Syrien liefern sich Rebellen und Regierungstruppen weiterhin heftige Kämpfe. Schätzungen zufolge sind dem Konflikt inzwischen mehr als 70 000 Menschen zum Opfer gefallen.[1] Ein Ende der Gewalt ist nicht abzusehen – im Gegenteil: Obwohl wiederholt der Fall des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad vorhergesagt wurde, scheint dieser seine Macht derzeit sogar noch festigen zu können.
Dafür ist auch der geringe internationale Druck auf das Assad-Regime verantwortlich. Besonders die Europäische Union und die Vereinigten Staaten zeigen sich zurückhaltend. Aber mehr noch: Iran, Israel und Russland wollen – aus je unterschiedlichen Motiven, aber dennoch in einer singulären faktischen Allianz – einen Sturz Assads sogar um jeden Preis verhindern. Die einzige Ausnahme im Chor der Umsturzskeptiker oder -gegner bildet die Türkei: Sie unterstützt unverhohlen die syrischen Rebellen. Ein Regimewechsel in Damaskus würde, so die Hoffnung der Regierung Erdogan, die türkische Vorherrschaft im Nahen und Mittleren Osten festigen.
Die Europäische Union hat Syrien mit einer Vielzahl von Sanktionen belegt, unter anderem einem Waffen-Embargo sowie Maßnahmen gegen den syrischen Finanzsektor; einige ihrer Mitgliedstaaten unterstützen die syrische Opposition auch diplomatisch, durch Initiativen im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Eine effektive militärische Unterstützung der Rebellen oder gar ein aktives Eingreifen in den Konflikt kommt für die EU jedoch nicht in Frage.
Ursächlich hierfür ist die mangelnde strategische Bedeutung Syriens für die EU. Hinzu kommt, dass weder Assad noch die Rebellen eine dezidiert antieuropäische Agenda verfolgen. Zweifelsohne ist eine Schwächung Assads in den europäischen Hauptstädten gern gesehen. Die unkalkulierbaren Konsequenzen eines Sturzes dürften jedoch stärker gefürchtet werden, insbesondere mit Blick auf die Sicherheit Israels. Aus diesem Grund schließt sich Europa weitgehend der Politik der USA an.
Für die Vereinigten Staaten ist der Syrien-Konflikt mit Blick auf Washingtons grundsätzliche Interessen im Nahen Osten und am Persischen Golf von Bedeutung: die Gewährleistung der Sicherheit Israels sowie die Kontrolle der regionalen Energie-Transportwege. Zugleich möchten die USA eine Rückkehr zum Status quo ante verhindern. Ein Sturz Assads wird jedoch mit Blick auf die Gefahr einer Machtübernahme durch Muslimbrüder oder Salafisten ebenfalls eher gefürchtet als real forciert.
So fordert die Obama-Regierung zwar offiziell den Sturz des syrischen Präsidenten, die tatsächliche Politik Washingtons deutet jedoch auf eine Fortsetzung der Politik des vergangenen Jahrzehnts hin. Dabei bewirkten die USA im Endeffekt eine Schwächung staatlicher Strukturen in Ländern, die Washington – oder seine Partner – strategisch bedrohten: Afghanistan, Irak, Libanon und Libyen. In Syrien werden die Rebellen weder mit schweren Waffen ausgestattet, noch kommt Washington dem Wunsch nach Errichtung einer Flugverbotszone nach – von einer direkten Intervention ganz abgesehen. Zugleich verhindern die USA eine rasche „Befriedung“ des Landes, indem sie den Rebellen finanzielle Mittel in Höhe von 60 Mio. US-Dollar zusagten.
Daher spricht vieles dafür, dass die Vereinigten Staaten auch in Syrien vor allem auf eine Schwächung staatlicher Strukturen abzielen, da dies den effektivsten Weg darstellt, die Achse Teheran-Bagdad-Damaskus-Beirut zu zerschlagen. Exemplarisch dafür ist die Forderung der USA nach einem Rücktritt Assads als Vorbedingung für Verhandlungen über die Zukunft des Landes. Der langfristige Erfolg dieser Politik ist jedoch überaus fraglich. Denn im Syrien-Konflikt könnten die Partner von heute zu den Gegnern von morgen werden. Anstatt sich als politische Objekte von Washington instrumentalisieren zu lassen, verfolgen die verschiedenen islamistischen Gruppierungen durchaus ihre eigenen Interessen.
Hinzu kommt, dass die Obama-Regierung weiterhin keine kohärente Nahostpolitik verfolgt: Der ungelöste israelisch-palästinensische Konflikt untergräbt nach wie vor das Ansehen Washingtons in der Region; ebenso stellt die Exklusion Irans und seiner schiitischen Partner aus der Sicherheitsarchitektur des Mittleren Ostens eine permanente Quelle der Unsicherheit für die Vereinigten Staaten dar. Am meisten wird die Destabilisierungsstrategie der USA jedoch durch ein anderes Ereignis in Frage gestellt – nämlich durch die jüngste, völlig überraschende strategische „Annäherung“ Irans und Israels im Zuge des Syrien-Konflikts.
Iran, Israel und Russland: Die neue Interessenkoalition
Vermutlich zum ersten Mal in der jüngeren Geschichte befinden sich Iran, Israel und zudem Russland auf einer Seite eines Konflikts. Obwohl gerade Teheran und Tel Aviv aus offensichtlichen Gründen politische Gemeinsamkeiten öffentlich nie einräumen würden, haben die Regierungen beider Staaten ein Interesse am Verbleib von Präsident Assad im Amt.
Gleiches gilt für Russland: Moskau versteht den syrischen Konflikt als Versuch der Schwächung seines wichtigsten (und, nach dem Ende Gaddafis, fast einzigen) Partners im Mittleren Osten. Seit der Suez-Krise 1956 verbindet beide Länder eine politisch-militärische Zusammenarbeit. Im Herzen der Levante gelegen, stellt Syrien für Russland seither den einzigen zuverlässigen Partner inmitten der Moskau nicht positiv gesinnten und zum Teil sogar prowestlichen Staaten Ägypten, Israel und Türkei.
Neben Russland tritt Iran als enger Verbündeter Assads in Erscheinung. Im Kampf gegen Assad sieht Teheran in erster Linie den Versuch, den iranischen Einfluss im westlichen Teil des Mittleren Ostens zurückzudrängen. Sollte die Verbindung zur Hisbollah über Syrien unterbrochen werden, würde dem Iran ein zentrales Instrument fehlen, um einen etwaigen Angriff auf sein Territorium vergelten zu können. Teheran unterstützt Damaskus daher politisch wie militärisch und sucht darüber hinaus intensiv eine politische Lösung des Konflikts.
Letzteres gilt, zumindest hinter den Kulissen, auch für Israel. Zwar ist auch für Tel Aviv die Schwächung der Verbindung Teherans zur Hisbollah attraktiv, doch schwerer wiegt ein anderer Faktor: Trotz des offiziellen Kriegszustands zwischen Syrien und Israel zeigte sich Assad stets als berechenbar. Seit dem Oktoberkrieg 1973 beteiligte sich das Land nicht mehr an direkten Kampfhandlungen gegen Israel. Zwischen beiden Staaten herrschte eine Art „kalter Frieden“. Offenbar verhandelte Jerusalem vor Beginn des Syrien-Konflikts mit Assad sogar über eine Rückgabe der Golanhöhen.[2]
Die Aussicht auf einen Regimewechsel in Syrien durch islamistische Kräfte stellt dagegen für Israel ein Horrorszenario dar. Muslimbrüder und Salafisten sind dezidiert radikal antiisraelisch eingestellt.
Bereits die neue Regierung in Ägypten macht aus ihrer Ablehnung gegenüber Israel keinen Hehl. Im Rahmen der Ernennung Mohammed Mursis zum Präsidentschaftskandidaten sprach ein führender Kader der Muslimbrüder in der Anwesenheit des heutigen Präsidenten davon, Mursi werde die „Vereinigten Staaten von Arabien mit Jerusalem als Hauptstadt“ realisieren. Der Präsident selbst erwägt eine „Überprüfung“ des Camp-David-Vertrags, während ein führender Kader prophezeit, Israel werde in zehn Jahren nicht mehr existieren.[3]
Israel hat somit schon heute zwei große Sicherheitsprobleme in seiner unmittelbaren Nachbarschaft: die Hisbollah im Norden und die Muslimbrüder im Süden. Würde Syrien in die Hände der Muslimbrüder – oder der noch radikaleren Salafisten – fallen, käme eine weitere Front hinzu, die aufgrund des syrischen Militärpotentials eine große Herausforderung für die Sicherheit Israels darstellen würde.
Verhinderte Regionalmacht Türkei
Trotz der breiten internationalen Zurückhaltung gelingt es den syrischen Rebellen, ihren Aufstand fortzusetzen und den Druck auf das Assad-Regime zu erhöhen. Grund dafür ist in erster Linie ihre Unterstützung durch die Türkei. Diese nutzt den Syrien-Konflikt ganz gezielt aus, um ihre strategische Vorherrschaft im Nahen und Mittleren Osten auszubauen.
Noch vor wenigen Jahren waren die syrisch-türkischen Beziehungen von freundschaftlicher Kooperation geprägt: Mit Libanon, Jordanien und Syrien wurde zudem eine Zusammenarbeit im Finanzsektor angestrebt.[4] Außerdem schaffte die Türkei die Visumspflicht mit diesen drei Staaten und darüber hinaus auch mit dem Irak, dem Iran sowie Libyen ab. Langfristig sollte – so der Plan Ankaras – eine freie Wirtschaftszone im Mittleren Osten entstehen.
Zu diesem Zweck verfolgte die Türkei zu dieser Zeit eine Politik der „null Probleme“. Jene zielte darauf ab, Spannungen in der Region abzubauen und durch die Integration verschiedener Akteure Ankara als politisches Zentrum zu etablieren. Diese Herangehensweise sollte der türkischen Außenpolitik zu mehr „strategischer Tiefe“ verhelfen.
2011 vollzog die Türkei im Zuge des sogenannten Arabischen Frühlings jedoch einen radikalen Kurswechsel. Seither versucht das Land als Patron der Aufstände zur Regionalmacht zu avancieren. Erdogan reiste nach Ägypten, Libyen und Tunesien, vereinbarte mit Kairo und Tripolis eine stärkere militärische Zusammenarbeit und nahm zudem libysche und syrische Oppositionelle auf. Auf diese Weise verfolgte die türkische Regierung das Ziel, AKP-ähnliche und somit Ankara wohlgesinnte Parteien in der arabischen Welt zu etablieren.[5] Um die arabische Straße für sich zu gewinnen, ging sie zudem auf Konfrontationskurs zu Israel. Auch wenn die türkische Regierung es bis heute ablehnt, einen „Neo-Ottomanismus“ zu betreiben, so spricht sie doch von einer „Vereinigung des Mittleren Ostens“. Syrien unter Assad ist vor diesem Anliegen ein Störfaktor. Um Syrien zu schwächen, rief der türkische Außenminister Ahmet Davutoglu daher die Vereinten Nationen zu einer „protective military operation“ in dem Nachbarland auf – wenn auch vergeblich. Doch auch ohne Mandat der Vereinten Nationen leistet die Türkei militärische Hilfe: Die türkischen Armee trainiert und bewaffnet die Freie Syrische Armee (FSA) und genehmigte ihr, eine Kommandozentrale auf türkischem Boden zu errichten.
Taktisch versuchte die Türkei, mit der Einnahme Aleppos durch die FSA ein zweites Bengasi zu schaffen – eine innersyrische Basis, von der aus ein Regimewechsel vorangetrieben werden kann. Doch dieses Vorhaben ist gescheitert: Der FSA konnte die Bevölkerung nicht für sich gewinnen und musste sich inzwischen aus der zweitgrößten Stadt des Landes zurückziehen.[6] Auch die einstige Rebellenhochburg Homs wird mittlerweile wieder weitgehend von Assads Armee kontrolliert.[7]
Da sich Ankaras Nato-Partner zögerlich zeigen, ist die Türkei durch den Syrien-Konflikt schon jetzt nachhaltig geschwächt worden. Zugleich hat sie ihre Rolle als glaubwürdiger Vermittler verspielt, die Region insgesamt destabilisiert und strategisch erheblich an Einfluss verloren. Dass die Türkei kein arabischer Staat ist und Erinnerungen an das Osmanische Reich omnipräsent sind, dürfte hierbei eine wichtige Rolle gespielt haben. Auch die Kooperation mit arabischen Staaten konnte nichts daran ändern, da es besonders Saudi-Arabien schwerfällt, als selbstloser „ehrlicher Makler“ aufzutreten. Letztlich ging das gesamte Kalkül der Türkei im Arabischen Frühling bisher nicht auf: Anstelle von AKP-ähnlichen Parteien etablierten sich Islamisten in Ägypten und Tunesien, während Libyen derzeit noch immer weit davon entfernt ist, ein stabiler Staat zu sein.
Syrien vor der Balkanisierung
Was die Zukunft Syriens anbelangt, spricht – bei aller gegenwärtigen Ungewissheit – vieles dafür, dass die syrischen Kurden ihre im Laufe des Konflikts gewonnene Autonomie behalten werden. Selbst wenn sich Assad halten kann, wird er weder ausreichend Kraft noch das kriegerische Interesse haben, ihnen ihre neu gewonnene Autonomie wieder zu nehmen. Stürzt der syrische Präsident jedoch, avancieren die Kurden zu einem noch größeren Machtfaktor in dem von religiösen und ethnischen Konflikten ohnehin zerrissenen Land.
Damit deutet sich bereits an, welches Schicksal Syrien letztlich beschieden sein dürfte. Schon jetzt ist die Staatlichkeit in Syrien auf unabsehbare Zeit massiv geschwächt; das Land steht damit vor gewaltigen inneren Zerreißproben. Im schlimmsten Fall droht eine Balkanisierung Syriens – der vollständige Zerfall des Staats, verbunden mit interreligiösen und interethnischen Konflikten. Angesichts dieser Bürgerkriegsperspektive steht damit auch fest, dass sich eines in Zukunft nicht ändern wird: Die Hauptleidtragenden des Syrien-Konflikts werden auch weiterhin die syrischen Zivilisten sein.
[1] Vgl. Syrien: 6000 Tote allein im März, www.sueddeutsche.de, 2.4.2013.
[2] Isabel Kershner, Secret Israel-Syria Peace Talks Involved Golan Heights Exit, in: „New York Times“, 12.10.2012.
[3] Israel will cease to exist within the decade, adviser to Egyptian president predicts, „The Times of Israel“, 1.1.2013.
[4] Nurdan Bozkurt, Middle Eastern lenders discuss union, in: „Hürriyet Daily News“, 28.3.2011.
[5] Steven Cook, Erdogan’s Middle Eastern Victory Lap, in: „Foreign Affairs“, 15.9.2011.
[6] Natalia Gorzawski, Die Bevölkerung wurde nicht vor die Wahl gestellt, in: „zenith online“, 28.8.2012.
[7] Jonathan Steele, Homs’ displaced residents begin to return after year of sustained bombing, in: „Guardian“, 10.2.2013.