Bundestag demontiert sich selbst

Erstveröffentlicht: 
03.07.2009

Reden werden ungehalten zu Protokoll gegeben, Diskussion und Öffentlichkeit entfallen: So erledigt der Deutsche Bundestag Gesetze - und sich selbst.


Von Heribert Prantl

Das Parlament muss sich einen neuen Namen suchen. Bisher heißt es so, weil es der Ort ist, an dem öffentlich Reden gehalten werden: Parlament kommt von parlare, das heißt reden. In der vergangenen Nacht aber, kurz nach Mitternacht, ist das öffentliche Reden im Bundestag abgeschafft worden, teilweise jedenfalls.

Die Geschäftsordnung, in der bisher steht, dass die "Redner grundsätzlich in freiem Vortrag" sprechen, wurde ausdrücklich geändert. Die "freie Rede" kann jetzt schriftlich abgegeben werden. Immer dann, wenn die Tagesordnung in der Fußnote "Rede zu Protokoll" vermerkt, deponiert der Redner diese im Lauf des Tages auf dem Tisch des Bundestagspräsidiums. Das nennt sich "öffentliche Verhandlung". Darin besteht dann die Verabschiedung eines Gesetzes.

 

Was lästig ist, wird ans Ende geschoben

In der vergangenen Nacht sind mehr als 40 Tagesordnungspunkte auf diese Weise erledigt worden, darunter eine ganze Reihe von Gesetzesvorhaben. Dergestalt erledigt wurden Gesetze zum Strafverfahren, zum Schutz der Opfer von Zwangsheirat und Stalking, zur Strafbarkeit der Genitalverstümmelung, zum Berufsbildungsgesetz etc. etc.

 

Zu Protokoll gegeben wurden die Reden zum Strahlenschutz, zur auswärtigen Kulturpolitik, zu Genmais und Regulierung des Strommarkts, zum Klimaschutz, zur Organspende, zur Wahl der Bundesverfassungsrichter, zur Krankenversicherung - bis hin zum Finale, dem Antrag der Grünen, "vorbildlich und importunabhängig Ökostrom und Biogas einzukaufen".

Die Reden zu all den Themen wurden einfach auf dem Tisch deponiert. Die zweite und dritte Lesung von Gesetzen bestand einzig und allein in der Niederlegung von schriftlichen Reden. Das war und ist die parlamentarische Praxis des Artikels 42 Grundgesetz, in dem es heißt: "Der Bundestag verhandelt öffentlich."

"Rede zu Protokoll" heißt dieses merkwürdige Verfahren, das die parlamentarischen Geschäftsführer der Fraktionen aus Gründen der Effizienz erfunden haben. Vor etwa zehn Jahren wurde es erstmals häufiger praktiziert. Heute bedienen sich die Fraktionsgeschäftsführer der Koalition dieses Verfahrens behende und exzessiv. Sie platzieren ihnen lästige oder zeitraubende Themen ans Ende eines langen Beratungstages - auf dass die Abgeordneten erleichtert sind, wenn sie nicht mehr ausharren müssen und sich also "zu Protokoll" verabschieden können.

Lesen Sie auf Seite 2, warum der Bundespräsident nicht beratene Gesetze auch nicht ausfertigen sollte. 

Der Bundestag wird dann zu mitternächtlicher und späterer Stunde nur noch durch seinen Präsidenten repräsentiert, der mit müder Stimme den Tagesordnungspunkt aufruft und die zu Protokoll gegebenen Reden registriert. Das Parlament verwandelt sich in eine Reden-Abwurfstelle samt Registratur. Der Clou: Die nun ganz offizielle Einführung von "Reden zu Protokoll" erfolgte durch Reden, die "zu Protokoll" gegeben wurden.

 

52 Sekunden Beratung pro Tagesordnungspunkt

In der vergangenen Nacht sind 43 Tagesordnungspunkte auf diese Weise parlamentarisch "erledigt" worden. Dafür vorgesehen waren 35 Minuten. Das ergab, so errechnete süffisant der frühere Bundestagsvizepräsident Burkhard Hirsch, 52 Sekunden Beratung pro Tagesordnungspunkt: "Wenn das keine Leistung ist!"

Soeben hat das Verfassungsgericht dem Bundestag in EU-Angelegenheiten sehr viel mehr Macht gegeben als bisher. Gleichzeitig entmachtet dieser Bundestag sich selbst - weil die Zeit drängt, weil Restanten abzuarbeiten sind, weil keine neuen Sitzungstage anberaumt werden sollen, die ja mit Ferien, Parteitagen oder Wahlkampfterminen kollidieren könnten.

Es geht den Fraktionsgeschäftsführern der Regierungsparteien um die Erledigung des politischen Programms; und ihre Kollegen von den kleineren Oppositionsfraktionen neigen angesichts der Mehrheitsverhältnisse dazu, sich auf alle Kompromisse einzulassen, um mit ihren eigenen Projekten nicht immer an das Ende der Tagesordnung zu rutschen.

 

Wer debattieren will, steht allein im Sitzungssaal

Diese Geschäftsführer sind die Mechaniker der Macht. Von ihnen geht zwar selten eine politische Idee aus, aber sie entscheiden über die Tagesordnungen, bevor der Ältestenrat sie abnickt. Sie entscheiden darüber, für welche Punkte es ordentliche Beratungszeiten gibt oder nur lächerliche fünf Minuten - oder gar keine, weil nur "zu Protokoll" gegeben wird. Ein altgedienter Parlamentarier sagt von den Fraktionsgeschäftsführern: "Sie missachten die Kraft des gesprochenen Worts, weil sie diese selbst nicht besitzen."

Natürlich kann ein Redner darauf beharren, dass er bei seiner Rede am Pult stehen darf. Er ist dann freilich ganz mit sich allein, die anderen Diskutanten sind schon längst anderswo, sie haben nicht nur ihre Reden, sondern womöglich auch sich selbst schon niedergelegt.

Der Grüne Matthias Berninger hat, bevor er nach zwölf Jahren im Bundestag sein Amt als Abgeordneter aufgab und in die Wirtschaft ging, in der Sitzung vom 26. Oktober 2006 erklärt: "Ich spare mir und dem Rest des Parlaments die Farce, allein zu reden; ohne Kenntnis der Argumente der anderen Kolleginnen und Kollegen wird von einer Debatte nicht die Rede sein können."

 

Das Parlament wird zum Dormitorium

Wird die fehlende Beratung im Plenum durch die Beratung in den Ausschüssen ersetzt? Derzeit nicht. Ausschusssitzungen sind nicht öffentlich. Der Bundestag muss aber, laut Grundgesetz, öffentlich verhandeln. Wenn die Sitzung im Plenum nicht mehr als öffentlich bezeichnet werden kann, müsste künftig zumindest die Ausschussberatung öffentlich gemacht werden.

Ist ein Gesetz, das in aller Heimlichkeit, mitten in der Nacht und nur zu Protokoll verabschiedet wird, verfassungswidrig? Laut Verfassungsgericht ist ein Gesetz auch nach fehlerhafter Beratung gültig, wenn der Bundespräsident es ausfertigt. Er wird sich weigern müssen, nicht beratene Gesetze auszufertigen. Ansonsten kriegt der unselige Staatsrechtler Carl Schmitt, der Kronjurist des Dritten Reiches, noch spät recht; er hat einst dem Parlament den Wegfall seiner ideellen Voraussetzungen attestiert: "Die Diskussion entfällt", "die Öffentlichkeit entfällt".

Wie soll ein Parlament genannt werden, das eigentlich kein Parlament mehr ist: Monumentum? Das heißt Grabmal. Dormitorium? Dormitare heißt einschlafen. Vielleicht sollte man das Wort Martyrium gebrauchen: Es ist nämlich eine Qual, feststellen zu müssen, wie das Parlament sich selbst erledigt.

 

(SZ vom 03.07.2009/luw/dmo)