Was in Syrien wirklich geschieht

Erstveröffentlicht: 
20.04.2013

Westliche Medien schreiben vom "Bürgerkrieg". Doch das greift zu kurz

 

Wie lässt sich die Lage in Syrien am besten beschreiben? Die einen sehen eine Revolution, die anderen einen Bürgerkrieg. In diesem kleinen Essay werden wir versuchen, über das polarisierende Begriffspaar Revolution/Bürgerkrieg hinauszugehen. Denn wir sind der Ansicht, dass sich gewalttätige Konflikte zwischen Bewohnern eines Landes und eine Revolution nicht ausschließen müssen. Die Frage ist also: "Was für einen Konflikt tragen die Syrer eigentlich gerade aus in ihrem Land? Und in welcher Beziehung steht er zur Revolution?"

Vorweg: Der Kampf in Syrien ist keineswegs rein religiöser Natur. Die internationale Gemeinschaft übertreibt, wenn sie das behauptet. Diese Lesart entspringt einer orientalistischen Perspektive. Einer Sichtweise, die Syrer oder auch Araber insgesamt auf ihre konfessionelle Zugehörigkeit reduzieren will. Jene religiösen Weltansichten seien fest verankerte, zutiefst substanzielle Identitäten, die losgelöst von der Geschichte und jeglichen sozialen und ökonomischen Zusammenhängen bestünden. Der Bürgerkrieg ist dann nur noch das unabwendbare Los des Orientalen. Diese rassistische Lesart lehnen wir ab.

Unterschlagener Feudalismus

Auch der Spanische Bürgerkrieg war eine Konfrontation zwischen Republikanern und faschistischen Anhängern Francos. Die russische Revolution entflammte vor dem Hintergrund des Aufstands gegen den Zaren. Auch die Lage in Syrien gleicht mehr diesen Beispielen als einem entfesselten Religionskrieg. Der Nahe Osten hat nicht etwa, wie die Orientalisten annehmen, irgendeine Spezialeigenschaft, die ihn für konfessionelle Konflikte besonders anfällig macht - und zwar immer dann, wenn am Fundament der bestehenden Regime gerüttelt wird. Stattdessen ist die konfessionelle Dimension des Konflikts im wirtschaftlich-sozialen Kontext zu betrachten. Einem Kontext, in dem sowohl Staatsmacht als auch politischer Einfluss und Kapital bislang monopolisiert sind.

Einer der Hauptgründe für den Bürgerkonflikt in Syrien ist der Aufstand eines Teils der Bevölkerung gegen eine feudale Schicht, die sie vollkommen unterjocht hatte. Den Großteil der aufständischen Sunniten treibt der Wunsch nach sozialer Gerechtigkeit und Rache an jenen Feudalisten viel mehr an als konfessionelle Befindlichkeiten. Übrigens gehören auch die "Feudalisten" unterschiedlichen Konfessionen an.

Bürgerkonflikte sind immer vielschichtig und multikausal. Ausgelöst werden sie, grob gesagt, durch innere und äußere Faktoren. Zu den inneren Faktoren zählt alles Konfessionelle, Religiöse, Ethnische, Klassenspezifische, Territoriale. Das Regionale, Überregionale und Internationale sind die äußeren, geopolitischen Faktoren. Schon wegen dieser Gemengelage ist ein Bürgerkonflikt nie rein konfessioneller Natur. Doch welche Stellung hat dann der konfessionelle Streit innerhalb des wirtschaftlich-sozialen Gefüges?

Westliche Medien, ja selbst internationale Menschenrechtsorganisationen greifen inzwischen fast immer auf die Bezeichnung "Bürgerkrieg" zurück, wenn sie die Geschehnisse in Syrien beschreiben wollen. Tenor: Da herrsche ein Krieg zwischen zwei gleich starken Parteien, die beide mit Gewalt an die Macht wollen. Jede der bewaffneten Konfliktparteien werde von externen Mächten unterstützt, die jeweils unterschiedliche Interessen verfolgten. Also ein Stellvertreterkrieg auf syrischem Boden. Hinzu komme der Umstand, dass die syrische Bevölkerung jetzt auch noch einen Religionskrieg führe. Sunnitische Extremisten kämpften gegen alle anderen Konfessionen. Was der Internationalen Gemeinschaft Angst mache (und zwar sowohl den Sympathisanten des Assad-Regimes als auch den Unterstützern der Rebellen), ist die Vorstellung, dass diese sunnitischen Extremisten, sollte es ihnen irgendwann gelingen, Assad zu stürzen, die anderen Konfessionen unterdrücken und verfolgen werden. Aus dieser Perspektive herrscht in Syrien ein "sinnloser Bürgerkrieg".

Im Unterschied zu dieser Erzählung sind wir der Ansicht, dass das, was in Syrien passiert, ein Volksaufstand ist. Dem zuvor skizzierten Narrativ widersprechen wir mit folgenden Argumenten: Erstens wird hier der Folterknecht mit seinem Opfer gleichgesetzt - und somit dem Aufstand jede moralische Dimension abgesprochen. Außerdem wird die Entwicklung des Aufstands gegen Assad ausgeblendet, angefangen damit, dass im Jahr 2011 in Daraa fünfzehn Kinder wegen eines Graffito vom Regime gefoltert wurden, über die friedlichen Proteste, die sich daraufhin nach und nach über das ganze Land ausbreiteten und schließlich zu den gewaltfreien Demonstrationen von mehreren Hunderttausend Menschen in Hama und Deir as-Sur führten.

Völlig außer Acht bleiben auch die ungezählten Personen, die willkürlich verhaftet wurden und anschließend unter Folter ums Leben kamen, sowie die unzähligen Situationen, in denen das Regime bewies, dass es nicht gewillt ist, seine repressive Grundhaltung auch nur um einen Deut zu ändern. Als wäre das nicht genug, übergeht man auch die politische Geschichte des 20. Jahrhunderts: angefangen beim Staatsstreich vom 8. März 1963 über die "Korrekturbewegung" bis hin zur Machtübergabe an Baschar al-Assad durch seinen Vater. Auch dass die Baath-Partei und später der Assad-Clan keinerlei politische Teilnahme egal welcher Seite im Land zuließ, wird verdrängt.

Genauso falsch ist es, die syrische Revolution isoliert von den anderen arabischen Revolutionen zu betrachten. Die syrische Revolution ist Teil einer die gesamte Region erfassenden Volksbewegung, die vor allem danach strebt, ihre Gesellschaften von den diktatorischen und korrupten Regimen zu befreien. Die Beschreibung als "Bürgerkrieg" ignoriert all das und konzentriert sich einzig und allein auf den militärischen Aspekt des Geschehens.

Zweitens: In Syrien herrscht kein Krieg im traditionellen Sinne. Stattdessen kämpfen bewaffnete Gruppen gegen eine echte Staatsarmee. Gegen eine Armee, die über eine Luftwaffe, Panzer, Raketen und chemische Waffen verfügt und die bereits jede dieser Waffen gegen Zivilisten und Kämpfer eingesetzt hat, ohne einen Unterschied zu machen. Immer wieder haben wir betont, dass die Bezeichnung "Freie Syrische Armee" für die bewaffneten Kämpfer in Syrien nicht korrekt ist. "Bewaffneter Volkswiderstand" wäre ein angemessenerer Name für die Rebellen.

Drittens: Zwar hat der militärische Aspekt in letzter Zeit die Oberhand gewonnen. Doch die gewaltfreie Oppositionsbewegung existiert weiterhin. Abgesehen von den Demonstrationen, die bis heute weiterhin regelmäßig stattfinden, wird in Syrien vielfältigste zivilgesellschaftliche Arbeit geleistet: bei der humanitären Hilfe, bei der Berichterstattung durch Bürgerjournalisten und der Dokumentation der Ereignisse, bei der politischen und sozialen Koordination.

Die Akteure in all diesen Bereichen sehen sich keineswegs in einen "sinnlosen Bürgerkrieg" involviert. Vielmehr begreifen sie sich als Teil eines demokratischen Prozesses. Anzuerkennen, dass es in Syrien Ansätze eines Bürgerkriegs gibt, schließt nicht aus, zu erkennen, dass dort eine Revolution stattfindet.

Revolutionen sind nicht sauber

Revolution wird definiert als das Streben breiter Bevölkerungsteile, ihre elende Lage zu beenden, wobei genau dieses Streben - in seinen unterschiedlichen Phasen - Formen eines Bürgerkriegs einschließen kann. Allgemeiner ausgedrückt: Stets steht ein Teil der Bevölkerung auf der Seite des repressiven Staates oder verharrt in Neutralität. Revolutionen ohne Gewalt, Revolutionen ohne Verlierer, ohne die notorisch Unentschiedenen, ohne Opportunisten und Märtyrer gibt es nicht. Daher steht es den Revolutionären auch unter keinen Umständen zu, die sichtbaren Ansätze zum Bürgerkrieg in Syrien zu leugnen. Ebenso wenig wie die akut zunehmende konfessionelle Färbung des Aufstands.

Trotzdem ist das, was derzeit in Syrien geschieht, eben kein "sinnloser Bürgerkrieg". Es ist eine Revolution, mit allen dazugehörigen Mühen und Schmerzen und unterschiedlichen Phasen. Es ist der längste und steinigste aller Wege, die Freiheit zurückzuerlangen.

MOHAMMED AL-ATTAR, ODAI ALZOUBI

Übersetzt und bearbeitet von
Sandra Hetzl und Ines Kappert



Mohammed al-Attar

 geboren 1980, ist syrischer Dramatiker. Seine Stücke wie "Withdrawal", "Online", "Look at this street - this is what hope looks like" oder "A Chance Encounter" wurden in London, New York, Seoul, Berlin, Brüssel, Athen und Beirut aufgeführt.


Odai Alzoubi

 geboren 1981, ist syrischer Schriftsteller. Er studierte Elektroingenieur an der Universität von Damaskus und Philosophie an der Lebanese University in Beirut. Zurzeit forscht er für seine Dissertation in Philosophie an der Universität von East Anglia in Norwich, Großbritannien. Ebenso wie Mohammed al-Attar analysiert er seit Ausbruch des Konflikts die Lage in Syrien.