Die von der Politik angekündigte Offensive gegen Neonazis nach dem NSU-Skandal ist offenbar ausgeblieben: Eine Studie im Auftrag der Antonio-Amadeu-Stiftung wirft der Polizei im Westen Versagen vor. Von Freia Peters.
Maximaler Repressionsdruck gegen Rechtsextremismus, das war die einhellige Ansage des damaligen Bundespräsidenten, der Bundeskanzlerin und der Innenminister der Länder, nachdem im November 2011 die NSU-Affäre bekannt geworden war. Wie hat sich seither die Verfolgung rechtsextremer Straftaten verändert? Das ließ die Amadeu-Antonio-Stiftung untersuchen, die zum Ziel hat, die Zivilgesellschaft zu stärken und rechtsextremen Tendenzen entgegenzutreten.
Ein Jahr lang ist die Politologin Marion Kraske durch das Land gereist und hat an zehn Orten Initiativen befragt, die sich gegen rechte Gewalt engagieren – "dort, wo man sich lange Zeit immun gegen Rechtsextremismus glaubte: im Westen der Republik", sagt Kraske. Ihr Report trägt den Titel "Staatsversagen: Wie Engagierte gegen Rechtsextremismus im Stich gelassen werden. Ein Report aus Westdeutschland".
Er dokumentiert Beispiele, in denen rechtsextreme Gewalt durch Polizei, Justiz und Politik offenkundig verharmlost wird.
Wenn Neonazis im Kino-Foyer stehe.
Da ist etwa ein Vorfall vom November 2010 in Wuppertal-Elberfeld: Eine Gruppe von Neonazis marschiert in das Foyer eines Kinos, in dem an diesem Abend ein Aufklärungsfilm über Rechtsextremismus gezeigt werden soll: "Das braune Chamäleon", auf dem Filmplakat ein Mann mit Schweinsmaske, die rechte Hand zum Hitlergruß gestreckt.
Die Männer singen das "NS-Propagandalied "Ein junges Volk steht auf", sie sind mit Schlagwaffen, Messern, Gas- und Pfeffersprays bewaffnet. Sicherheitsleuten gelingt es in einem Handgemenge, die Männer vor die Tür zu befördern. Daraufhin werfen sie Steine vor die Fassade.
Die Behörden benennen und ahnden den Überfall aber nicht als politisch motivierten Gewaltakt – obwohl es in der offiziellen Stellungnahme der Polizei heißt, es habe sich um eine "Auseinandersetzung zwischen Besuchern der Vorführung und einer Gruppe rechtsextremistischer Personen" gehandelt, darunter Angehörige der "Nationalen Sozialisten Wuppertal". Letztendlich gebe es aber "keine beweiskräftige Zuordnung von Taten und Tatverdächtigen".
Wuppertal – Hochburg der Rechtsextremen
Laut der Anwältin der Organisatoren des Abends, Edith Lunnebach, handelt es sich eindeutig um den Strafbestand des Landfriedensbruchs. Doch keiner der Angreifer wird zur Rechenschaft gezogen – obwohl einer von ihnen derzeit in Koblenz vor Gericht steht und ausgesagt hat, beim Kino-Angriff nicht als Einzelperson gehandelt zu haben, sondern als Mitglied des "Aktionsbüro Mittelrhein". Laut Anklage sterbt dieses Bündnis die Errichtung eines Staates nach nationalsozialistischem Vorbild an.
Wuppertal hat sich laut Alexander Häusler, Extremismusforscher an der Fachhochschule Düsseldorf, in den vergangenen Jahren zu einer Hochburg der rechtsextremen Szene entwickelt.
Die zuständige Leiterin der Kreispolizeibehörde sagte auf einer Podiumsdiskussion: "Wenn die Linken nicht kommen würden, dann würden die Rechten nicht zuschlagen." Die Wuppertaler Rechtsextremen-Szene fungiere als Teil einer bestens verdrahteten Struktur, sagt hingegen Häusler: "Die Stadt ist einer der großen blinden Flecke in Nordrhein-Westfalen, an denen augenscheinlich bewusst das existierende Nazi-Problem ausgeblendet wird." Ursache seien die "Untätigkeiten der lokalen Polizeibehörden".
"Von der Polizei hätte ich so etwas nicht erwartet
Der Report zitiert zudem Beispiele, in denen die Polizei bei Gewalttaten gegen Migranten rechtsextreme Tatmotive von vorneherein ausklammert. In das Reihenhaus von Ali und Selma Korkusuz in Betzdorf etwa, einem kleinen Ort im Westerwald nahe Siegen, dringen eines Abends im vergangenen Jahr zwei Fremde mit einer Eisenstange ein und brüllen etwas von "dreckigen Türken".
Ali Korkusuz, Ingenieur, in Deutschland geboren und aufgewachsen, nimmt geistesgegenwärtig die tumultartigen Szenen mit seinem Handy auf und ruft die Polizei. Doch diese verhaftet Korkusuz selbst und führt ihn mit Handschellen ab.
Die Polizei ging offensichtlich automatisch von einem Familienstreit aus. "Der Familie wurde der staatliche Schutz vorenthalten", urteilt der Anwalt der Familie Hasan Dinc. Ali Korkusuz hat den Glauben an den deutschen Staat verloren: "Von der Polizei hätte ich so etwas nicht erwartet."
Zahl rechtsextremer Straftaten steigt
Die Polizei sei manchmal nicht Freund und Helfer, sondern Teil des Problems, das ist das Fazit einer Studie der Universität Leipzig "Die Mitte im Umbruch". "Geht man von der These aus, dass sich unter den Angehörigen der Behörden dieselben Einstellungen wiederfinden lassen, wie in der Bevölkerung, so muss man annehmen, dass rechtsextreme Einstellungen auch dort zum Tragen kommen, wo eigentlich Neutralität gefragt ist", schreiben die Extremismusforscher Elmar Brähler, Oliver Decker und Johannes Kiess.
Laut der Studie hat jeder fünfte Deutsche ausländerfeindliche Überzeugungen, jeder achte antisemitische. 16 Prozent im Osten und sieben Prozent im Westen der Republik verfügen über ein geschlossenes rechtsextremes Weltbild.
Die Überzeugungen in Ost und West scheinen sich anzugleichen. Hatte das Bundeskriminalamt 2006 noch doppelt so viele rechtsextreme Straftaten in Ostdeutschland registriert, lag der Anteil 2011 in den alten und neuen Bundesländern gleichauf. Im Jahr 2012 ist die Zahl rechtsextremer Straftaten um vier Prozent gestiegen.