"Schludriger Umgang mit Rechtsextremismus im Westen"

Erstveröffentlicht: 
10.04.2013
Amadeu Antonio Stiftung wirft Behörden Versagen vor Von Dorothea Jung. Rechtsextreme Übergriffe in den alten Bundesländern werden von der Polizei nicht konsequent verfolgt, Opfer werden von Behörden verdächtigt und schikaniert. Zu diesem Ergebnis kommt die Amadeu Antonio Stiftung in einem neuen Report.

 

Als die Politologin und Publizistin Marion Kraske im Auftrag der Amadeu Antonio Stiftung mit ihrer Untersuchung von rechtsextremistischen Übergriffen und Zwischenfällen in Westdeutschland begann, erntete sie bei Kollegen Unverständnis und Verwunderung.

Marion Kraske: Man hat eigentlich nicht gesehen, wie stark sich der Rechtsextremismus auch im Westen tagtäglich Bahn bricht und auch hier Opfer produziert mit fatalen Konsequenzen. Das Problem wird von den maßgeblichen Stellen in den Behörden nicht richtig erkannt oder nicht richtig benannt. Es ist ein schludriger bis nachsichtiger mit rechtsextremen Taten und rechtsextremen Tätern zu konstatieren.

Anhand ausgesuchter Fälle aus den alten Bundesländern dokumentiert Marion Kraske in ihrem Report, wie sich das fehlende Problembewusstsein staatlicher Akteure für den Rechtsextremismus im Alltag westdeutscher Kommunen auswirkt: Staatsanwaltschaften spielen bei Anzeigen den rechtsextremistischen Hintergrund von Straftaten herunter, Gerichte mildern in zweiter Instanz Urteile gegen Neonazis ab, Polizeibeamte behandeln die Opfer rechter Gewalt wie Straftäter, und zivilgesellschaftliche Initiativen gegen Rechts werden von den Behörden als linksextremistisch oder als Nestbeschmutzer diffamiert.

Marion Kraske: Der Spielraum des Rechtsstaates wird nicht ausgeschöpft. Das zieht sich wie ein Muster durch alle unsere Beispiele. Die Botschaft in die rechtsextreme Szene ist verheerend: Ihr könnt hier machen, was ihr wollt.

Ein Beispiel für mangelndes staatliche Engagement aus Wuppertal. Dort will im November 2010 ein Jugendmedien-Projekt in einem öffentlichen Kino einen Aufklärungsfilm über Neonazis zeigen. Plötzlich stürmt eine Gruppe vermummter Neonazis den Saal, singt das NS-Propaganda-Lied "Ein junges Volk steht auf", bedroht die Zuschauer mit Schlagwaffen und Messern und wirft mit Steinen. "Den Kinobesuchern gelingt es, die Neonazis aus dem Saal zu drängen", berichtet Augenzeuge Norbert Weinrowsky. Der Wupperthaler Medienpädagoge war damals sicher, dass es gegen die Neonazis zu einem Verfahren wegen Landfriedensbruchs kommen würde. Statt dessen muss er sich über die Einschätzung des Innenministeriums im Verfassungsschutzbericht des Landes wundern :

Norbert Weinrowsky: Und da wurde dieser Fall als versuchte Störung beschrieben, dass es da um eine Auseinandersetzung zwischen Linken und Rechten Szene gegeben hätte. Es war zum großen Teil aus Sicht der Neonazis beschrieben tatsächlich.

Erst als das ZDF über den Vorfall berichtet, nimmt die Staatsanwalt die Ermittlungen wieder auf. Und Wuppertals Oberbürgermeister ist empört. Allerdings nicht über die Neonazis, sondern über das ZDF.

Norbert Weinrowsky: Das Problem sind nicht die Neonazis, das Problem ist nicht die Polizei, das Problem ist nicht die Staatsanwaltschaft, das Problem ist nicht das Gericht, das Problem ist der Redakteur eines öffentlich-rechtlichen Mediums. Und wenn ein Oberbürgermeister einer mittelgroßen deutschen Stadt das verbreitet, verbreiten lässt, und das wörtlich sagt, da sehe ich eine Gefährdung der Demokratie.

Wuppertal sei kein Einzelfall, resümiert die Amadeu Antonio Stiftung. Im bayrischen Amberg , wo häufig Neonazi-Konzerte stattfinden, werden Gegendemonstranten als Provokateure diffamiert; im Schleswig-Holsteinischen Tostedt wird ein Bekleidungsgeschäft, das Neo-Nazi-Artikel verkauft erst nach jahrelangen Protesten geschlossen, im rheinlandpfälzischen Betzdorf verhaftet die Polizei nach einem Überfall auf das Wohnhaus einer Migrantenfamilie die Bewohner und nicht die Täter usw. Das Fazit des Reports: Alltagsrassismus ist nicht nur bei den sogenannten Normalbürgern verbreitet, sondern auch in den staatlichen Behörden. Und zwar in Ost und West. All diese Recherchen lassen nach Auffassung der Amadeu Antonio Stiftung den Schluss zu: Die Zwickauer Terrorzelle konnte sich auf die fehlende Aufmerksamkeit gegenüber dem Rechtsextremismus in Westdeutschland verlassen: 9 von 10 NSU-Morden fanden in den alten Bundesländern statt.

Dieser Beitrag wurde am 10. April 2013 in der Ortszeit von Deutschlandradio Kultur um 17:20 Uhr gesendet.