Innenminister Reinhold Gall (SPD) musste wiederholt einräumen, vor einem Rätsel zu stehen. Nun hat der NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestags Baden-Württemberg für den 18. April auf die Tagesordnung gesetzt. Dann könnte sich entscheiden, ob auch der Stuttgarter Landtag einen NSU-Ausschuss einsetzt.
4. November 2011: Mit dem Tod von Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos in Eisenach sowie der Brandstiftung in ihrer Wohnung in Zwickau durch Beate Zschäpe wird die Terrorgruppe mit dem Namen Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) bekannt. Und es beginnt, was nun seit eineinhalb Jahren die Öffentlichkeit von Woche zu Woche neu in Atem hält: ein Ringen zwischen Aufdeckung und Vertuschung einer Mordserie und ihrer Hintergründe.
Die Ermittler finden die Pistole, Marke Ceska, mit der von 2000 bis 2006 acht türkische und ein griechischer Gewerbetreibender ermordet wurden. Sie finden die beiden Pistolen, Marke Tokarev und Radom, mit denen in Heilbronn eine Polizistin ermordet und ihr Kollege lebensgefährlich verletzt wurde, und sie finden die Dienstwaffen der beiden Beamten. Aufgrund dieser Indizien wird das Trio Böhnhardt, Mundlos, Zschäpe für die Mordserie verantwortlich gemacht.
In einem anderen Fall traf die Bundesanwaltschaft eine andere Bewertung, dem Fall der früheren RAF-Frau und Verfassungsschutz-Informantin Verena Becker. Obwohl sie im Besitz der Tatwaffe im Mordfall Buback war, bestritt die Karlsruher Behörde ihre Täterschaft. Manche Täter scheinen willkommen zu sein, manche eben nicht.
Heilbronn könnte der Schlüssel sein
Mindestens zehn Morde und mindestens zwei Bombenanschläge zwischen dem 9. September 2000 und dem 25. April 2007 in Nürnberg, Hamburg, München, Rostock, Köln, Dortmund, Kassel und Heilbronn: Das ist die Terrorspur, für die die NSU-Gruppe mutmaßlich verantwortlich ist. Der Anschlag von Heilbronn ist der rätselhafteste. Er passt nicht in das Muster der anderen Anschläge. Opfer wurden keine Migranten, sondern zwei Polizeibeamte. Nicht die Ceska-Pistole wurde verwendet, sondern zwei andere Waffen. Und nach Heilbronn endete die Anschlagserie. Lange viereinhalb Jahre dauerte es, bis die Terrorgruppe aufflog. Heilbronn könnte der Schlüssel zur gesamten Mordserie wie zur NSU-Organisation sein. Wer gehörte dazu? Und was wollte sie?
Böhnhardt,
Mundlos, Zschäpe stammen aus dem thüringischen Jena, waren dort in
neonazistischen Kreisen, wie dem Thüringer Heimatschutz, aktiv und
tauchten im Januar 1998 unter. Spuren des Trios finden sich schon seit
Anfang der 2000er-Jahre in Baden-Württemberg, in der Region zwischen
Schwäbisch Hall, Heilbronn, Ludwigsburg und Stuttgart. Auf einer
Adressliste von Uwe Mundlos, die die Polizei in dessen Garage in Jena
fand, stehen Namen aus Ludwigsburg. In der zerstörten Wohnung in Zwickau
wurde ein Stadtplan von Heilbronn gefunden. CDs mit Fotos zeigen
Zschäpe in Ludwigsburg und Böhnhardt und Mundlos in Stuttgart. Hinzu
kommt, dass ihr Neonazi-Kamerad Tino Brandt, zugleich V-Mann des
Verfassungsschutzes (Decknamen: Otto und Oskar), in Kochersteinsfeld
nördlich von Heilbronn von 2004 bis 2008 ein Haus besaß.
Warum der Anschlag auf zwei Polizisten? Weil sie Repräsentanten des Staates waren, sagen die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe und der Generalstaatsanwalt von Stuttgart. Das ist eine Aussage mit demonstrativem Charakter, die zahlreiche konkrete Erkenntnisse ignoriert. Michèle Kiesewetter, die 22-jährige Polizeibeamtin, die in Heilbronn getötet wurde, stammt aus Thüringen, aus der Nähe von Saalfeld, einem der Umtriebsorte des Thüringer Heimatschutzes. Ihr Onkel arbeitet als Kriminalpolizist in Saalfeld und war vor Jahren beim Staatsschutz, also einer Behörde, die auch für rechtsextremistische Straftaten zuständig ist. Er hatte Kontakte in die rechtsextreme Szene. Eines der Versäumnisse der Ermittler in Heilbronn war, den privaten E-Mail-Verkehr Kiesewetters nicht zu sichern. Der Account-Betreiber Yahoo hat ihn längst gelöscht.
Kiesewetters Kollege wird abgeschirmt
Zu wenig Berücksichtigung im Aufklärungspuzzle findet bisher Kiesewetters schwer verletzter Kollege Martin A. Er wird abgeschirmt. Es heißt, er könne sich an die Tat nicht erinnern und nichts zur Aufklärung beisteuern. Doch das stimmt nicht. Martin A. wurde bereits sechs Wochen nach dem Anschlag zum ersten Mal polizeilich befragt und war vier Monate nach seinem Kopfschuss bereits wieder im Polizeidienst. Er machte konkrete Angaben. Und die Polizei ließ nach seinen Vorgaben ein Phantombild eines der Täter fertigen, das nie veröffentlicht wurde.
Martin A. und Michèle Kiesewetter gehörten zur polizeilichen Sondereinheit BFE in Böblingen. BFE steht für Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit, eine Truppe in schwarzer Montur, die entsprechend martialisch auftritt. So auch beim Schwarzen Donnerstag im Einsatz gegen Stuttgart-21-Gegner im Schlossgarten der Landeshauptstadt Ende September 2010. Bei Demonstrationen hat die Einheit häufig den Auftrag, mögliche Straftäter zu greifen. Eine Art Elitetruppe, deren Mitglied Kiesewetter auch als NoeB, als "Nicht offen ermittelnde Beamtin", eingesetzt wurde. Und dass Martin A.s Stiefvater Mitarbeiter des Bundesamts für Verfassungsschutz war – Zufall?
Die Heilbronn-Ermittler sagen, Kiesewetter und ihr Kollege wurden erschossen beziehungsweise verletzt, als sie auf der Theresienwiese in Heilbronn Mittagspause machten. Die Bewegungsdaten der beiden Beamten an jenem Tag sagen möglicherweise anderes. Danach machten sie bereits um 11:30 Uhr an dem Trafohaus auf dem Festplatz eine Pause. Anschließend fuhren sie zu einer Schulung ins Polizeipräsidium. Um 13:45 Uhr machten sie sich von dort wieder auf den Weg mit direktem Ziel Theresienwiese, wo sie etwa um 13:55 Uhr eintrafen. Kurz danach wurden sie angegriffen. Waren sie vielleicht sogar mit den Tätern verabredet?
Phantombilder der Ermittlungsakten
Kontext konnte mehrere Phantombilder aus den Ermittlungsakten einsehen. Das Bild, das nach Angaben von Martin A. von dem Mann erstellt worden war, der sich den beiden Polizisten auf seiner Wagenseite näherte, zeigt weder Mundlos noch Böhnhardt. Auch die anderen Phantombilder, die die Polizei aus Zeugenaussagen erstellen ließ, ähneln den beiden Männern nicht.
Der ehemalige Leiter der Sonderkommission, Axel Mögelin, sprach vor dem Untersuchungsausschuss des Bundestags davon, dass bei Bewertung aller glaubwürdigen Zeugenaussagen von vier bis sechs Tätern in Heilbronn ausgegangen werden könnte. Auf dem Polizeiauto waren mehrere unidentifizierte DNA-Spuren sichergestellt worden. War das NSU-Trio also Teil einer größeren Organisation? Besteht sie noch? Und: Wird hier rückhaltlos ermittelt und die Öffentlichkeit wahrheitsgemäß informiert?
Das Fahrzeug der Böblinger Sonderpolizisten war auch im Rahmen des Objektschutzes amerikanischer Einrichtungen eingesetzt. Das Magazin "Stern" berichtete kurz nach Entdeckung des NSU-Komplexes Anfang Dezember 2011 von einer gemeinsamen Operation bundesdeutscher und US-amerikanischer Nachrichtendienste an jenem 25. April 2007 in Heilbronn. Das wurde von deutschen Stellen wie dem BKA offiziell zurückgewiesen. Ein interner Schriftverkehr zwischen Militärischem Abschirmdienst (MAD), Bundesnachrichtendienst (BND) und dem US-amerikanischen Militärgeheimdienst Military Intelligence Detachment (MID) in Heidelberg zeigt jedoch, dass die Dienste die "Stern"-Geschichte nicht etwa als Märchen abtaten, sondern sie ernsthaft erörtern wollten. Auch vor dem Berliner Untersuchungsausschuss war sie ein Thema, ohne dass sie aufgeklärt worden wäre.
Der Ku-Klux-Klan und die Polizei
Im Zuge der Aufklärungsbemühungen von Journalisten und Untersuchungsausschüssen kam heraus, dass Polizeibeamte aus Baden-Württemberg Mitglied im deutschen Ableger des rassistischen amerikanischen Geheimbundes Ku-Klux-Klan (KKK) waren. Darunter zwei Beamte der Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit aus Böblingen. Einer war ein Vorgesetzter von Michèle Kiesewetter und Martin A. Chef und Gründer des KKK war der Heilbronner Achim Schmidt, zugleich V-Mann des Landesamts für Verfassungsschutz Baden-Württemberg. Die Beamten sollen den KKK bald wieder verlassen haben, heißt es im Stuttgarter Innenministerium. Nach jüngeren Berichten sollen aber mehrere Polizisten im KKK aktiv gewesen sein, auch noch Jahre später.
Typische KKK-Umtriebe, wie rituelle Kreuzverbrennungen, gab es Mitte der 90er-Jahre beim Thüringer Heimatschutz. Schon damals dabei: Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe. Die Rolle Zschäpes ist doppelt fragwürdig, denn sie nannte einem Kriminalpolizisten später bei einer Vernehmung bereitwillig ein Dutzend Namen von Beteiligten dieser Aktion.
Verfassungsschutz als Bindeglied?
Der KKK könnte das Bindeglied zwischen der NSU-Mördertruppe und dem Fall Heilbronn sein. Mitglied des von Achim Schmidt gegründeten KKK war auch Thomas Richter, ein Neonazi aus Halle. Richters Name stand auf jener Adressliste von Uwe Mundlos. Er hatte offensichtlich Kontakt zum späteren NSU-Trio. Was die Angelegenheit aber besonders dramatisch macht: Richter war auch V-Mann des Bundesamts für Verfassungsschutz (BfV), Deckname Corelli. Wie die Öffentlichkeit im Jahr 2013 erfährt, 18 Jahre lang – von 1994 bis Ende 2012. Der Verfassungsschutz also selber ein Bindeglied zwischen Neonazi-Gruppen. Richter wird vom BfV abgeschirmt und soll sich im Ausland befinden.
Vor
dem Untersuchungsausschuss in Berlin sagte Günter Stengel, 2003 von
einem Informanten Hinweise auf eine Terrorgruppe in Ostdeutschland
namens NSU bekommen zu haben. Die Gruppe, so der frühere Beamte des
Landesamts für Verfassungsschutz (LfV) Baden-Württemberg, habe Kontakte
nach Heilbronn besessen, ein Mitglied habe Mundlos geheißen.
Doch dann tat sich beim LfV in Stuttgart Seltsames: Verfassungsschützer Stengel musste seinen Bericht vernichten, Begründung: Eine Gruppe namens NSU sei nicht bekannt. In seiner Sitzung am 18. April will der Untersuchungsausschuss des Bundestags nun die Verantwortlichen des LfV dazu befragen. Als Zeugen gehört werden der Vertreter des Landeskriminalamts (LKA) Baden-Württemberg, Joachim Rück, von 1998 bis 2005 für Rechtsextremismus zuständig, sowie die Verfassungsschützer Bettina Neumann, von 1993 bis 2011 mit dem Rechtsextremismus befasst, und Helmut Rannacher, Präsident des Landesamts von 1995 bis 2005.
Zschäpe und Schwäbisch Hall
Und es gibt Spuren des Mordtrios im württembergischen Unterland: Im Sommer 2006 soll sich Beate Zschäpe in der Wohnung von Gesinnungskameraden in einem kleinen Ort bei Schwäbisch Hall aufgehalten haben. Das erklärte ein Hinweisgeber, dessen Name Kontext bekannt ist, unter anderem gegenüber dem Innenministerium und dem baden-württembergischen Verfassungsschutz. Der Mann will mit einer ehemaligen V-Frau des LfV liiert sein, von der er die Informationen habe. Er berichtet derart konkret und detailliert, dass er nicht als bloßer Spinner abgetan werden kann, sondern nach dem Stand der Dinge auch im Münchner NSU-Prozess als Zeuge gehört werden wird.
Die Widersprüche und Fragen zum NSU-Komplex in Baden-Württemberg werden drängender. Innenminister Reinhold Gall, SPD, hat deshalb eine Extra-Ermittlungsgruppe des LKA eingesetzt. Dabei gibt es bereits eine Sonderkommission zu Heilbronn. Gall musste wiederholt einräumen, vor einem Rätsel zu stehen. Für einen Innenminister ein Offenbarungseid. Wissen baden-württembergische Sicherheitsbeamte mehr als ihr oberster Chef? Zu einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss, wie in Bayern, Sachsen, Thüringen und im Bundestag, können sich die Parteien bisher nicht durchringen. Einzig die im Landtag nicht vertretene Piratenpartei fordert ihn.