Winterbach/Stuttgart. Auf der Zielgeraden: Im Prozess um den Winterbacher Brandmordanschlag überschlagen sich die Ereignisse. Ein Angeklagter bricht nach 36 Prozesstagen sein Schweigen, und Verteidiger erheben schwere Vorwürfe. Die Justiz soll willkürlich ermittelt, V-Leute in die Naziszene eingeschleust und sogar zur Tat aufgewiegelt haben.
Monatelang trat der Prozess auf der Stelle – nun ist binnen weniger
Minuten mehr passiert als an unzähligen zähen Prozesstagen. Nur
unverwüstliche Optimisten haben wohl noch damit gerechnet, dass der
Prozess um die Hetzjagd und den Brandanschlag in Winterbach auf eine
Gruppe junger Migranten noch Fahrt aufnimmt. Monatelang hatte Christian
W. (siehe rechts) eisern geschwiegen, nun hat er zugegeben, dass er mit
anderen Personen Richtung Gartenhütte gerannt sei, aufgrund seiner
Trunkenheit habe sich jedoch ein Abstand zur jagenden Meute ergeben. W.
habe daraufhin keinen Migranten angetroffen und auch sonst niemanden
mehr gesehen. Allerdings habe er Schreie gehört. Anschließend sei er
zurückgekehrt auf das Grundstück seiner Familie.
Christian W. nennt zudem Namen der aufbrechenden Partygäste und
unterstreicht somit deutlich seine Ankündigung, dass er künftig der
rechten Szene den Rücken kehren wolle. Durch diese Aussage macht W.
Nägel mit Köpfen und nennt insgesamt sieben Personen, die zur
Gartenhütte gerannt seien – darunter auch die zwei Verurteilten, die im
vergangenen März im ersten Prozess wegen gefährlicher Körperverletzung
Haftstrafen von jeweils zwei Jahren und fünf Monaten verpasst bekamen.
Ferner belastet W. drei Männer aus dem Saarland sowie zwei weitere
Personen aus der Region Stuttgart.
Bezüglich der zeitlichen Abfolge der Geschehnisse in der Nacht zum 10.
April 2011 habe W. sich lange schwer getan, so sein Verteidiger Marko
Becker. Letzlich hätten die Aussagen der bereits Verurteilten ihm
geholfen, dass er sich erinnern konnte. „Beginnend mit der heutigen
Einlassung möchte Herr W. die rechtlichen Konsequenzen auf sich nehmen.
Er möchte seine Strafe verbüßen und dann so schnell wie möglich zu
seiner Familie zurückkehren“, so Becker. W. sei sich bewusst, dass seine
Aussagen einen Bruch mit der rechten Szene darstelle. Nach der
Verbüßung seiner Gefängnisstrafe wolle er ein neues Leben ohne
Verbindungen zur rechten Szene beginnen. Fragen des Gerichts und der
restlichen Verteidiger wollte W. an diesem Prozesstag nicht beantworten
und zunächst Rücksprache mit seinem Anwalt Becker halten.
Verteidiger vermuten, dass V-Leute die Finger im Spiel hatten
Nachdem bereits der rechte Szeneanwalt Steffen Hammer den Antrag
gestellt hat, dass Verfassungsschützer befragt werden sollen, ob die
Grillparty mit V-Leuten unterwandert gewesen sei und diese sogar die
Partygäste zu dem Anschlag überhaupt erst angestiftet haben, schloss
sich nun Verteidiger Ingo Reetzke mit einem weiteren Antrag dieser
Forderung an. Der Beweisantrag geht sogar einen Schritt weiter: Er
fordert, Beate Bube, Präsidentin des Landesamtes für Verfassungsschutz,
in den Zeugenstand zu laden. Reetzke spricht von „willkürlichen
Ermittlungen“ und vermutet, dass Ermittlungen gegen bestimmte Partygäste
eingestellt wurden, da diese als V-Leute eingesetzt worden seien. Als
Beispiel nennt er einen Mann, der zunächst wegen versuchten Mordes
angeklagt war – ein simples Schreiben dessen Anwalts habe ausgereicht,
um die Anklage jedoch nichtig zu machen. Zudem sei „ausdrücklich nicht
gegen eine Frau“ ermittelt worden, obwohl die Migranten in der
Gartenhütte eine Frauenstimme vernommen hätten. Auch dieser Dame
unterstellt Reetzke eine Tätigkeit als V-Person. Ferner ist Reetzke
Anhänger der Verschwörungstheorie, dass gerade diese V-Leute das
Eskalieren der Situation provoziert hätten. Staatsanwalt Markus Höschele
bezeichnete diesen Antrag als „skurril“, die Kammer wird kommenden
Donnerstag darüber entscheiden.
Christian W.
Der 36-jährige Christian W. ist schon lange Zeit in der
rechtsradikalen Szene aktiv gewesen, er war zeitweilig Pressesprecher
der NPD Rems-Murr und ist auch polizeilich schon in Erscheinung
getreten.
Zusammen mit anderen Neonazis hat er im Jahr 2000 in
Schorndorf einen griechischen Geschäftsmann zusammengeschlagen. Hierfür
erhielt er eine Bewährungsstrafe von zwei Jahren.
Das Engelberger Gartenstückle, auf dem die Neonazis in der
Nacht des Brandmordanschlags (10. April 2011) gefeiert haben, gehörte
einem Mitglied der Familie W.; die Gemeinde Winterbach kaufte nach dem
Anschlag sowohl das Stückle der Opferfamilie als auch jenes der Familie
W.