Von jeher war es Ausdruck und Mittel des Kalküls vorherrschender gesellschaftlicher Kräfte, unliebsame Meinungen, randständige Positionen und andere Formen der Widerständigkeit und des Aufbegehrens zu verunglimpfen oder gar zu dämonisieren, in allen Fällen aber als "nicht dazugehörig" darzustellen. Das soll den willkürlichen Umgang mit den unliebsamen Störern legitimieren.
Wenn also die Polizei des Rhein-Erft-Kreises als Exekutivorgan eines neoliberal ausgerichteten Staates ausgerechnet zu Beginn einer 150-tägigen Phase, in der es dem Energiekonzern RWE gestattet ist, im Hambacher Forst zwecks Erweiterung des Braunkohletagebaus Bäume zu fällen, eine Pressemitteilung [1] herausgibt,
in der von einer "steigenden Anzahl und Intensität der Straftaten" einer Gruppe von Waldbesetzern die Rede ist, dann ist dies möglicherweise Folge solch eines kalkulierten Vorgehens. Jene Waldbesetzerinnen und Waldbesetzer wollen verhindern, daß die verbliebene Restfläche dieses ursprünglich einmal 5.500 Hektar großen, uralten Waldes ebenfalls dem Braunkohleabbau zum Opfer fällt.
Die Polizei berichtete nun "von drei bekannt gewordenen und angezeigten Straftaten" allein am vergangenen Wochenende. Am Freitag wurde ein Arbeiter in einem Mulchfahrzeug mit Glasbehältern beworfen und verletzt, am Samstag wurden zwei Mitarbeiter des RWE-Sicherheitsdienstes bedroht sowie mit Pfefferspray besprüht, am Sonntag wurde ein RWE-Mitarbeiter durch eine Steinwurf am Kopf verletzt.
Wer für die Taten verantwortlich ist, bleibt indes unklar. Aus Besetzerkreisen ist zu vernehmen, daß sie Gewalt gegen Menschen ablehnen und auch nicht vorhaben, von dieser Einstellung abzuweichen. [2] Die Polizei wiederum macht die Besetzerinnen und Besetzer verantwortlich und stützt sich dabei lediglich auf Mutmaßungen. So sollen die Täter obiger Vorfälle "unerkannt in das Waldstück des Hambacher Forstes" geflohen sein.
Hier sollte die Betonung auf "unerkannt" liegen. Genaues weiß man offenbar nicht. Und die bloße Richtung einer Fluchtbewegung sagt noch lange nichts über das Ziel der Flucht aus. Die Polizei sollte eigentlich wissen, daß Fluchtmanöver oftmals dazu dienen, sie auf eine falsche Fährte zu locken. Warum läßt die Polizei den Eindruck aufkommen, sie verfolge die von ihr geschilderten Vergehen nicht ergebnisoffen? Noch gilt in Deutschland die Unschuldsvermutung als Rechtsbasis, auch wenn sie im Zuge sicherheitsstaatlicher Aufrüstung zunehmend unterminiert wird.
Doch wer den Konflikt im Hambacher Forst auf die Frage reduziert, wer wann welchen Stein geworfen hat, läuft Gefahr, den grundlegenden Widerspruch zu übersehen zwischen einer besonders zerstörerischen Hochkonsum-Lebensweise, die nur mittels einer permanent exzessiven Energieproduktion aufrechterhalten werden kann, und dem Bemühen, in Theorie und Praxis eben jenen destruktiven Bedingungen die Wirkmächtigkeit abzustreiten. Was an dieser Stelle der gesellschaftlichen Auseinandersetzung ein klares Nein dazu bedeutet, daß ganze Landschaften weggerissen werden, um in rund 400 Metern Tiefe ein Material abzubauen, das sich verbrennen und in Bewegungs- bzw. Wärmeenergie umwandeln
läßt, die den gesamten technologiegestützten Wirtschaftsstandort Deutschland in Betrieb hält. Man hat es hier gleichfalls mit einem Akt der Zerstörung zu tun, aus der verbrannten Braunkohle wird nichts als Asche und Gas. Eine Umkehrung der Verhältnisse ist nicht möglich, die Zerstörung bleibt endgültig.
Die Asche wiederum kann nicht vollständig aus dem Abgas der Braunkohlekraftwerke herausgefiltert werden und belastet Mensch und Umwelt mit Feinstaub und Uranpartikeln. Das Gas - Kohlendioxid - dagegen verstärkt den Trend der Erderwärmung; ihm gelten internationale Anstrengungen des Klimaschutzes. Wissenschaftlichen Prognosen zufolge wird sich die Erde als Folge vor allem menschengemachter Treibhausgase, wie sie im besonderen Ausmaß den Schloten der Braunkohlekraftwerke entweichen, im Laufe dieses Jahrhunderts so sehr aufheizen, daß der Meerespiegel steigt und teils dicht besiedelte Inseln untergehen. Der Permafrost unter anderem der Hochgebirge wird tauen und die Talbewohner werden vermehrt von Schlamm- und Geröllawinen getroffen. Gänzlich neue Klimazonen werden entstehen, in denen weder Tiere noch Pflanzen existieren können.
In den hier genannten und noch vielen weiteren Beispielen werden Menschen aus ihrem angestammten Lebensraum vertrieben. Aber höchstwahrscheinlich sind es nicht die Profiteure der Verwertungsordnung, die die Verluste erleiden, sondern ihnen stets namen- und gesichtslos bleibende Menschen in millionenfacher Zahl, die nicht mehrere Wohnsitze gleichzeitig ihr eigen nennen und über keine ausreichenden Mittel verfügen, um die Naturkatastrophengebiete von morgen großräumig vermeiden zu können.
Die Besetzung eines Waldes in der Absicht, an dieser einen Stelle einen "Fortschritt" in die gleiche Richtung wie bisher verhindern oder wenigstens stören zu wollen, als irrational, versponnen oder utopisch abzutun, wie es regelmäßig in der Berichterstattung der Konzernmedien zu vernehmen ist, hieße, der Rationalität von Raub und Zerstörung das Wort zu reden.
Am 4. Oktober haben die Waldbesetzerinnen und -besetzer vom Energiekonzern RWE eine Mitteilung [3] erhalten, daß ihre Duldung vorbei sei; die Polizei kündigte eine Räumung an. Die erfolgt womöglich schon in den nächsten Stunden oder Tagen. Damit würde wieder einmal eine Chance vergeben, die Energiewende nicht als bloßen Innovationsschub für einen Kapitalismus in grün zu installieren, bei dem die Braunkohleverstromung als "Brückentechnologie" noch für viele Jahrzehnte fortgeschrieben wird.
[1] "POL-REK: Waldbesetzer des Hambacher Forstes zunehmend unfriedlich - Kerpen", 22. Oktober
2012http://www.presseportal.de/polizeipresse/pm/10374/2348298/pol-rek -waldbesetzer-des-hambacher-forstes-zunehmend-unfriedlich-kerpen
[2] "RWE
und Polizei versuchen, die eigene Gewalt mit unhaltbaren
Vorwürfen zu legitimieren", 22. Oktober 2012
http://hambacherforst.blogsport.de/2012/10/22/rwe-und-polizei-versuchen-...
[3] "RWE Power hebt die Duldung auf", Rhein-Erft-Rundschau, 4. Oktober 2012
http://www.rundschau-online.de/rhein-erft/huettendorf-rwe-power-hebt-die...
23. Oktober 2012