Street Art zwischen Revolte, Repression und Kommerzialität skizziert am Beispiel der Pariser Künstlerin Miss.Tic und des Hamburger Sprayers OZ
Wenige Jahre nach der offiziellen Auflösung der Situationistischen Internationale 1972 machte sich die Pariser Künstlerin Miss.Tic daran, Techniken aus dem Verfremdungsrepertoire für ihre individuellen künstlerischen Zwecken zu entführen. Das Umherschweifen (dérive) in der Stadt, das Sprühen ihrer Schablonentextbilder auf die Pariser Mauern wurde zum konspirativen Ausgangspunkt ihres kreativen Schaffens, das dem öffentlichen Aufsehen nicht entgehen sollte. Die Umdeutung von Werbemotiven (détournement), besonders im Hinblick auf die Selbst- und Fremddarstellung der Frau, war und ist ihr Sujet. Dieses Oeuvre findet heute die Anerkennung eines Publikums, das sich zusammensetzt ausGaleristen, Kunstkennern, Kunstförderern in Werbung, Industrie und Politik – und unermüdlich den Pariser PassantInnen (récupération). Miss.Tic spricht ohne Umschweife über ihren kreativen Schaffensweg, in dem es allzu lange um das pure, nackte Überleben ging. Realität ist ihre Geschichte vom migrantisch geprägten Kind der Pariser Banlieues, welches wortwörtlich auszog, um sich subversiv mit Esprit, Erotik und Energie einen Platz in der (bürgerlichen) Kunstgeschichte zu erobern.
Geschult in der Auseinandersetzung mit den Ideen der Situationisten
(Debord und Vaneigem) ist jedoch der Songtitel Your love dont pay my
rent der New Yorker Sängerin Lydia Lunch Maxime ihres Schaffens.
In Hamburg wurde der Sprayer Walter F. alias OZ, in den letzten 30
Jahren für insgesamt 8 Jahre in den Knast geschickt, nur weil er seine
immer gleichen Smiley-Zeichen oder Signaturen auf die Rückseiten von
Verkehrsschildern oder auf verdreckte hässlich-graue Bunkerwände
sprayte. Gilt hier für ihn das, was Baudrillard in Kool Killer oder der
Aufstand der Zeichen schrieb: Mit den Graffiti von New York wurden zum
ersten Mal in großem Ausmaß und in höchst intensiver Freiheit die
urbanen Bahnen und beweglichen Träger beschmutzt. Aber vor allem wurden
zum ersten Mal die Medien selbst attackiert, also in ihrer Produktions-
und Verteilungsweise. Und zwar eben deshalb, weil die Graffiti keinen
Inhalt, keine Botschaft haben. Es ist diese Leere, die ihre Kraft
ausmacht.
Woher rührt (noch immer?) die subversive Kraft von
Graffiti und das nicht erlahmende Verfolgungsinteresse staatlicher
Repressionsorgane? Ist es die politische Dimension in Form von
Illegalität und der Aneignung von Stadt, viel mehr noch als ihr
künstlerisches Erscheinungsbild. Und kann Street Art ihren rebellischen
Ursprungscharakter noch bewahren oder hat das Verwertungsinteresse des
Kunstbetriebs bereits gesiegt?
Jorinde Reznikoff hat (zusammen
mit KP Flügel) das Buch “Bomb it, Miss.Tic” in der Edition Nautilus
herausgegeben und den Prozess gegen OZ journalistisch für Radio FSK,
Hamburg, und die Graswurzelrevolution reflektiert.Beginn um 20:00 Uhr in der KTS-Freiburg Baslerstr.103