Neue Mitteilung des Gefährten "Tripa" aus der JVA Süd, Mexiko-Stadt

Solidaridad Mario Lopez "Tripa"

Ich bin kein Brandstifter, kein Pyromane, kein Terrorist, ich bin ein Anarchist, Feind des Kapitalstaates. Meine Einstellungen sind in einer ernsthaften Haltung und Kritikfähigkeit verwurzelt, in Selbstkritik, Analyse und Theorie, aber auch in Praxis und Aktion.

 

"Und ja, ich bezeichne mich selbst als Individualanarchisten, ikonoklastisch und nihilistisch; deswegen glaube ich, dass eine noblere und integere Ausdrucksform meines Willens und meiner völligen Individualität existiert, wie ein überquellender Fluss, der sich ausbreiten will und mit seiner Heftigkeit Hecken und Dämme fortreißt, bis er auf die Felsen aus Granit stößt, in Stücke zerfällt und sich auflöst. Ich stoße das Leben nicht ab. Ich lobpreise und besinge es. [...]

Jemensch, die_r das Leben ablehnt, weil sie_r nichts als Schmerz und Leid fühlt und in sich selbst nicht den held_innenhaften Mut findet, sich umzubringen...[...]

Das Leben ist - für mich - weder gut, noch schlecht, weder eine Theorie, noch eine Idee. Das Leben ist eine Realität und die Realität des Lebens ist Krieg."

Renzo Novatore,

"Ich bin auch ein Nihilist"

 

Es gibt ein vertontes Gedicht, das sagt: "Das Leben ist wie ein Blatt Papier, es kann jeden Augenblick zerreißen"...Auch mit der Wehmut dieses Klangs erkennt mensch doch schließlich, dass es schlicht und einfach genau so ist. Die Linie zwischen Leben und Tod ist dünn und zerbrechlich und, obwohl es in einigen Momenten von unserer bewussten oder unbewussten Entscheidung abhängen kann, ist es doch eigentlich etwas Unerwartetes, was uns schließlich überraschend trifft, so wie mensch sagt: "Es kommt, wie es kommt."

 

Die Anarchist_innen der Praxis, die gegen die Macht kämpfen, die sozialen Rebellen, die beschließen, ihr Leben als Kampf ohne Waffenstillstand gegen den Staat zu führen, befinden sich immer an dieser dünnen, zerbrechlichen Linie, was keine selbstmörderische Absicht ist, wie viele glauben mögen, sondern einfach eine oft unerwartete Konsequenz. Andererseits ist in vielen Fällen, in denen sich mensch dieser Konsequenzen - Tod, Knast, Folter - bewusst ist, die Notwendigkeit der Freiheit größer als jegliches Gefühl der Angst und Furcht; und sie stürzen sich mit absolutem Vertrauen in die Schlacht, auch mit Angst, aber auch mit einer unerbittlichen Bestimmung, die nur von jenen ausgeht, die mit aller Macht die Anarchie, oder besser: die absolute Freiheit, suchen.

 

Einmal mehr bekräftige ich: Mensch muss die Freude und das Glück durch unsere Taten suchen und finden.

 

1. Was mir passiert ist - und das sage ich, weil ich die Argumente derer kenne, die uns kritisieren - wird von einem breiten Sektor des Anarchismus in Mexiko als Ausgangspunkt genommen werden, um vor der Gesellschaft (?) unseren Kampf, mein individuelles Projekt und ein informales Projekt, das auf lokalem und globalem Niveau einen direkten Kampf zur Zerstörung des Kapitalstaats führt, zu diskreditieren. Ich weiß, dass das, was mir passiert ist, für einige als "Mittel der Einschüchterung" benutzt werden wird, damit weniger Gefährt_innen den Weg der Aktion wählen und sich auf bequeme Positionen des ewigen Wartens zurückziehen.

 

Für mich war das, was mir passiert ist, nur ein Unfall, der mich, statt mich moralisch zu schwächen, stärkt, ohne mein Ego zu erhöhen. Nein! Es steigert meine Überzeugungen und mein Sein als Anarchist.

 

Wenn diese Situation etwas hervorbringt, hoffe ich, dass es eine Intensivierung der Debatte, der klaren, direkten und objektiven Kritik sei. Die Intensivierung des Kampfes gegen das Strafsystem und den Knast. Die Intensivierung und das Anwachsen des direkten und unvermittelten Kampfes gegen den Kapitalstaat.

 

2. Trotz dieser negativen Fragen, die meine minimale Aufmerksamkeit beanspruchen, sind auch positive Sachen passiert.

Es hat mich sehr gefreut, dass eine weitere Publikation des corte anarquista insurrecional erschienen ist,  begleitet von meiner geliebten Conspiracion Acrata ("anarchistische Verschwörung"), die sich um die Verbreitung der insurrektionalen Gesamtheit und der anarchistischen Aktion kümmert. Mehr Publikationen, mehr Debatten, mehr Verbreitung und Diversität. Obwohl, wie das Editorial der Conspiracion Acrata schon sagt, meine aktuelle Situation im Knast mich in hohem Maße von der aktiven Teilnahme an der Publikation abhält, werde ich diese im Rahmen meiner Möglichkeiten fortführen.

Damit, und mit jedem anderen Medium, das mir Raum dafür öffnet, denn in dem von uns geführten Kampf ist die Beteiligung der Gefangenen im Krieg von hoher Bedeutung.

 

3. Von meiner Seite aus lehne ich alle Spottnamen, die der Staat und die Massenmedien mir verleihen, ab. Mein Projekt, unser Projekt ist kein "Brandstifter_innen"-Projekt. Ein auf die Zerstörung einer vom TechnologieKapitalismus regierten Gesellschaft zielender Kampf kann nicht einfach auf ein Brandstifter_innenProjekt reduziert werden. Ich bin kein Brandstifter, kein Pyromane, kein Terrorist, ich bin ein Anarchist, Feind des Kapitalstaates. Meine Einstellungen sind in einer ernsthaften Haltung und Kritikfähigkeit verwurzelt, in Selbstkritik, Analyse und Theorie, aber auch in Praxis und Aktion. Die Solidarität, die gegenseitige Unterstützung, die Selbstbestimmung, die Autonomie und die Eigenverantwortlichkeit sind anarchistische Werte und Praktiken, die wir, genau wie die permanente Konflikthaltung (als Haltung gegenüber dem Leben) als Gegenwerte dem entgegenstellen, was das System uns von Geburt an eintrichtert. Diese Werte sind schon immer Bestand unserer Praxis und in uns als Personen und unserer Umgebung.

 

Ich meine, dass die Ausbeutung, Unterdrückung und Herrschaft des TechnologieKapitalstaats nicht nur gegen die Menschen ausgeübt wird, sondern auch gegen die Natur und die Tiere; im Namen des Fortschritts einer Gesellschaft, die sich um die Zerstörung der natürlichen Umwelt, auf die sie auch noch angewiesen ist, kein bisschen kümmert; für die Bequemlichkeit einer Gesellschaft des Kapitals, die gleichsam Umwelt, uralte Kulturen, ursprüngliche Völker und Menschen, die sich diesem System und seiner vom Kaufen-Verkaufen-Konsumieren angefüllten Lebensart entgegenstellen, zerstört. Es zerstört ihre angeborenen Identitäten und verwandelt sie in Massenprodukte des Marktes, selbst des "Revolutionstourismus'".

 

Diese Ausbeutung, Unterdrückung und Herrschaft wird nicht nur durch die (Erwerbs-)Arbeit ausgeübt, sondern auch in der Schule, den Gefühlen, der Liebe, in der Sexualität. Ein Beispiel hierfür sind Pussy Riot, die vom russischen Staat und der Kirche unterdrückt werden; verurteilt wie seit Jahrhunderten viele Personen weiblichen Geschlechts, die wegen absurder "Delikte" wie Hexerei, Entehrung, Ehebruch, etc. umgebracht wurden.

 

Wegen des Kampfes gegen das Herrschaftssystem sitzen viele Öko-Anarchist_innen hinter Gittern, so der Fall von Bruder Braulio Duran oder der "Operation Mangiafuoco", Gefährt_innen der ALF/ELF (Animal Liberation Front/Earth Liberation Front), die weiterhin Gefangene sind. Weil der Anarchismus eine Gefahr für den Staat darstellt, hat die Polizei in dem Moment, als Giannis Dimitraktis sich nach der Enteignung einer Bank in Griechenland als Anarchist bekannte, ihre Haltung geändert. 

 

Und gegen all das müssen wir unseren Kampf richten, die Wurzeln des Problems objektiv angreifend: die Existenz des Staats/Kapitals.  Gegen all das müssen wir mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln den Kampf richten, bis wir die totale und absolute Befreiung erreicht haben.

 

Mein Projekt, unser Projekt der totalen Befreiung, des Aufstands, ist kein Teil des "Verbrennens des Verbrennens wegen", sondern Teil einer soliden Basis, einiger Prinzipien und einer Idee der Zerstörung des Etablierten, genauso gründet es sich auch auf der Schaffung von Räumen, Realitäten, Momenten und Verbindungen außerhalb der kapitalistischen Regeln; doch dass sie nicht das Maß der möglichsten Assimilation und somit zerstörbar durch das System seien.

 

Es lebe die Anarchie!!

 

Morgens, wenn ich aufstehe, drehe ich mich um und sehe die Gitterstäbe der Zellen; mein Körper schaudert und mein Blick wird klar. Mein Geist reist für einen Moment und tritt in jede Zelle ein, in der sich ein gefangener Gefährte befindet. Es macht mich nicht traurig, es macht mir keine Angst oder Beklemmung, es macht mich wütend, dass ich nicht bei euch sein kann, mich mit euch solidarisieren kann, mit denen ich Kritik, Reflexionen, Diskurse und Meinungen geteilt habe, von denen ich viel gelernt habe und die gegenseitige Unterstützung für meine Projekte, für mein Leben gefühlt habe. Ihr, Krieger der Freiheit, die wir uns nie von Angesicht zu Angesicht gesehen haben, aber zu denen ich immer eine gewisse Zuneigung verspürte, ein Empfinden der Brüderlichkeit, Zuneigung und Gleichgesinntheit, einen gegenseitigen Lernprozess.

Jetzt werde ich fortfahren, sie zu lesen, die zwei, drei...Hinter den Gittern des Kapitalstaats-Kerkers. Nicht traurig, nicht schwach, nicht abwesend, im Gegenteil: immer überzeugend...so empfinde ich sie!

 

Niemals geschlagen, niemals bereuend!

 

Mit wütender Zärtlichkeit für die Gefährten Stefano Gabriele Fosco und Gabriel Pombo da Silva.

 

Die Erfüllung ("El Culmine") unseres Kampfes und die anarchistische Verschwörung ("Conspiracion Acrata") unseres Lebens

leben weiter.

 

Solidarität mit dem Hungerstreik des Gefährten Marco Camenisch, mit dem öko-anarchistischen Gefangenen Braulio Duran,

mit den anarchistischen und libertären Gefangenen auf der ganzen Welt.

 

Solidarität mit Felicity Ryder auf ihrer Flucht in die Freiheit.

 

Erinnere dich, Schwester: We stand when other fail!

 

Angesicht zu Angesicht mit dem Feind! Sozialer Krieg! Für die Anarchie!

 

Mario Lopez Hernandez

Reclusorio Varonil Sur
México, D.F.,

4. September 2012

 

"Original" (auf spanisch) zu lesen unter: http://liberaciontotal.lahaine.org/?p=4549

weitere Infos (auf spanisch) unter: solidaridadmario.espivblogs.net