Herrschaft ist Käse

Erstveröffentlicht: 
10.08.2012

Internationaler Anarchisten-Treff

 

Aus Saint-Imier berichtet Frank Patalong

 

Autorität, Herrschaft, Kapital, alles irgendwie fies. 3000 Anarchisten diskutieren im Schweizer Saint-Imier die Probleme der Welt. Von radikalen Lösungen oder gar Revolution ist allerdings kaum etwas zu hören - Anarchie ist heute vor allem ein Lebensstil.

 

"Den bestellten Wagen haben wir nicht da", sagt der freundliche Mensch von der Autovermietung. "Aber ich hab da was Feines für Sie. Eine S-Klasse!" - "Oh, danke", antworte ich, "haben Sie vielleicht auch ein Downgrade?"

Sieben Stunden später bin ich im Schweizer Jura und heilfroh, dass ich eine vergleichsweise unauffällige Kiste unter dem Hintern habe. S-Klasse, so was fährt hier nur der kapitalistische Feind. Denn in der beschaulichen Kleinstadt Saint-Imier (4700 Einwohner) sind in dieser Woche rund 3000 Anarchisten aus aller Welt zusammengekommen, um - ja was eigentlich? Zu feiern? Den Umsturz zu planen? Die politische Philosophie Bakunins an dem Ort zu pflegen, in dem 1872 die Antiautoritäre Internationale gegründet wurde ?

Genau das und mehr. Anarchist ist ein konservatives Schimpfwort, ein bürgerlicher Alptraum. Bilder hat man da im Kopf: von Redenschwingern, Agitatoren, intellektuellen Träumern von einer besseren Welt ohne Macht und Gewalt - und von Bombenlegern. Aber gilt das alles noch? Wie mögen sie heute aussehen?

In Saint-Imier laufen überall Menschen herum, die sehr offensichtlich Fremdkörper sind. Ich spreche eine junge Frau von vielleicht 20 Jahren an: Sie trägt ein schwarzperliges Piercing in der Lippe und ein schwarzes T-Shirt mit irgendwas drauf. Darunter einen schwarzen Rock, unter dem wiederum schwarze Leggings und sehr hohe, schwere Doc-Martens-Stiefel, trotz der sommerlichen 27 Grad. Es ist fast eine Uniform: Man sieht jede Menge Schwarz hier, vor allem bei den deutschen und französischen Autonomen.

"Organisationsbüro?" Sie klingt ratlos. "Ne, sowat gibbet hier glaub ich gar nich. Am organisiertesten ist noch die Buchmesse."

Ach, sage ich, wie interessant: Wo ich die denn finden könne? Sie zeigt mir einen Plan, der ganz Saint-Imier im Format DIN-A8 darstellt. Darauf irgendwelche Punkte und Zickzackwege. "Da", sagt sie, "war ich überall schon, aber ich kann dir nicht sagen, was wo ist. Hier laufen alle nur rum."

Das, sag ich, sei ja die totale Anarchie, aber sie versteht den Witz nicht. Und dann fällt ihr ein, dass man im Espace Noir Pläne bekommt und Kaffee und vielleicht auch Auskunft.

Das Espace Noir wurde wahrscheinlich Ende der Siebziger mit antiquarischen Büchern, Autonomen und Flugblättern gefüllt und direkt ins Jahr 2012 gebeamt: Es ist ein pickepackevolles Déjà-vu. An der Theke kennt einer den Weg zum Orga-Team: "Geh doch da rein, da ist das Büro!"

Vegane Gemeinschaftsküche

Gesagt, getan: "Gehört ihr zum Orga-Team?", frage ich zwei schwarzgekleidete Hünen älteren Baujahrs, die den Eingang versperren. "Ne", knurrt der eine und sieht auf mich herab, "seh ick so aus?"

"Wat willste denn?", ranzt er, und ich sag nix, ich sei nur Presse. "Und dann musste hier vorstellig werden, wa?", feixt er. "Nein", sage ich, "ich muss gar nichts. Ich will."

Offenbar ist das eine hinreichend anarchistische Antwort, um Hüne zwei, auf dessen Rücken "Kreuzberg" prangt, in Bewegung zu setzen: Ich darf rein. Der Mensch am Tisch kann mir weiterhelfen. Er erklärt mir auf Englisch, was Sache ist: "Den Presse-Knopf", sagt er, "musst du immer tragen. Und wenn du Fotos machen willst…"

"Schon klar", falle ich ihm ins Wort, "ich frage immer."

Er sieht mich streng an. "Es geht nicht ums Fragen. Es geht um Sichtbarkeit. Dass du Presse bist. Das muss den Leuten klar sein."

Ach so.
Meistens bedeutet Presseakkreditierung ein Privileg: Man kommt überall rein, man darf mehr als andere. Hier ist das umgekehrt. Mit dem Pressestigma an der Brust ist man außen vor. Gebrandmarkt, sozusagen. Mein Einweiser fährt fort, mir zu erklären, was ich alles nicht darf. Sieht so aus, als müsste ich Zeichnungen machen statt Fotos.

"Und zum Campingplatz", erklärt mein Organisator, "hast du als Journalist keinen Zugang. Da wollen die Leute mal ihren Frieden."

Oder in Ruhe kiffen? Was soll's, lande ich eben in einem Bett. So schade es auch sein mag, dass ich so die vegane Gemeinschaftsküche verpasse.

Der Frage, was ein Anarchist heute ist, bin ich derweil kaum nähergekommen. Manche sehen aus wie Punks, andere wie brave Japaner, weil sie aus Japan angereist sind. Viele kommen aus Spanien, und noch mehr sehen aus wie Studenten, die über ökonomische Krisen reden wollen und darüber, dass das doch nun die Chance sei, endlich die "Schrumpfwirtschaft" durchzusetzen. Auch für die Schuldenkrise haben sie eine Lösung parat: einfach nicht bezahlen.

Schon um neun Uhr am Morgen reden satt 150 Interessierte mit großer Ernsthaftigkeit über den Arabischen Frühling. Und dass es eigentlich egal sei, ob da nun Diktatoren regierten oder Islamisten. Weil sich in der Struktur, an den Herrschaftsverhältnissen nichts verändert habe: "Da müssen wir beraten, Alternativen aufzeigen."

Idealisten mit Ideologie: Eine radikale Minderheit

Die orientieren sich stets an libertären Idealen, wie mir Cathy und Jak aus der Dordogne erklären. Autorität, Herrschaft, Kapital: All das ist schlecht, der Bezugspunkt ist stets der Einzelne, der sich und seinen Willen verwirklichen soll, auch wenn die Mehrheit dagegen ist. Gemeinsame Interessen führten doch eh zu gemeinsamen Zielen und gegenseitiger Hilfe. Klingt schön und ideell und fast wie der Sommer der Liebe, hat aber auch eine andere Seite: "Du kannst hier mit allen über ganz viele Dinge reden", sagt Jak. "Aber es gibt auch Dinge, über die reden wir mit dir nicht."

Und dann laden mich die beiden ein, sie zu Hause zu besuchen, unbedingt, mach das! Wunderschön sei es da. Aber ein Foto, sagt Cathy, könne ich von ihnen nicht machen. Unmöglich. Keine Presse, keine Öffentlichkeit. Man wisse ja nie.

So ist das eben. Gegenüber dem Außenstehenden sind diese Anarchisten mal reserviert, mal herzlich, am Ende aber immer vorsichtig. Sie sind normalerweise ein kleiner, versprengter Haufen, der sich selbst außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft sieht. In Saint-Imier sind sie für eine Woche die Gesellschaft. Die Dörfler scheinen das sogar interessant zu finden. "Wir waren ja auch mal jung", sagt mir eine ältere Frau, und dass sie es gut finde, wie friedlich "die" feiern und dass sie gar nicht störten, obwohl sie so wild aussehen. Und dass die doch so schöne Ideen hätten.

Saint-Imier ist Happening oder Kongress, wie man will. Wer auf zu viel Ökonomie und soziale Utopie, gewaltlosen Widerstand, durchaus rabiaten Antifaschismus oder Anarachafeminismus keinen Bock hat, kann einfach auch nur Party machen. Dafür gibt es Liederabende und Konzerte, und tagsüber ein Kontrastprogramm von Kino bis Selbstverteidigungskursen.

Herrschaft ist doch Käse

Hunde gibt es nicht, weil Anarchisten auch die Situation der Tiere tiefgründig diskutieren. So wie die soziale Revolution, weil auf die zielt ja eigentlich alles ab. Irgendwann, wenn man wieder mehr engagierte Mitglieder hat als die geschätzt 2000 weltweit, die sich in der Internationale der Anarchistischen Föderationen (IFA) engagieren. Es ist die größte der Gruppen, die das alles hier organisiert haben. Gemessen am Mainstream der Gesellschaft sind sie eine radikale Minderheit. Verglichen mit einem ganz normalen Schützenfest im Sauerland, in Oberbayern oder Sachsen ist das Gewaltpotential aber verschwindend gering.

Von ihren Wurzeln hat sich diese anarchistische Bewegung allerdings gründlich entfernt. Auch die sozialen Revolutionsbewegungen des 19. Jahrhunderts zielten auf Umverteilung, auf eine Beendigung von Ausbeutung, auf Teilhabe an den Früchten der eigenen Arbeit. Doch es ging dabei um Wohlstandsmehrung für die Armen. Heute ist ihnen Wohlstand ein Feindbild aus sich heraus. Ihre Anarchie ist ein sozialer Traum, eine Lebensart, eine Kultur.

Im Espace Noir hält mir ein altes Männchen eine Petition an Assad unter die Nase. Der, fordert er, solle endlich Schluss machen mit dem Scheißkrieg in Syrien und die Sache stattdessen bei einem Schachspiel regeln. Klasse Idee, sage ich, wenn auch nicht gerade aussichtsreich. Macht nichts, alle lachen, da macht man doch gern mit. Und wenn Assad das Spiel gewinnt?

Das wäre auch egal, denn wer die Herrschaft ausübt, ist letztlich irrelevant. Herrschaft ist an sich doch Käse.