Es gibt ein Leben nach Assad

Erstveröffentlicht: 
12.07.2012

Eine Reise in die syrische Stadt Azaz, in der die Rebellen die Oberhand haben und die letzten Regime-Truppen sich verzweifelt wehren.


Wolfgang Bauer in der Zeit

Der Mann, von dem sie in Azaz sagen, er sei ganz ohne Angst geboren, läuft die Straße entlang. Die Straße ist menschenleer. Glassplitter knirschen unter seinen Sandalen. Der 29-jährige Ahmed* läuft in immer gleicher Geschwindigkeit, in einem eigentümlichen Wiegegang, mit weit ausgreifenden Schritten. Ahmed hat das Downsyndrom. Er weicht Trümmern aus, die von den Hauswänden auf die Straße gestürzt sind, verschwindet für einen Moment in den Rauchschwaden einer neuen Explosion. Er streckt die Hand nach einer Wand aus, weil 200 Meter entfernt eine Mörsergranate einschlägt. Es ist Krieg in Azaz, einer Kleinstadt im nördlichen Syrien. Die meisten der 70.000 Einwohner sind geflohen oder haben sich tief in ihren Häusern versteckt, nur Ahmed bleibt auf der Straße; seine Familie hat ihn zurückgelassen. Er ist einer der letzten Zivilisten.

»Ein Engel wacht über ihn«, heißt es in der Stadt über Ahmed, der wie unbeteiligt durch Tod und Zerstörung wandelt. Ich begegne ihm an einem Tag besonders schweren Beschusses, als die Imame der Stadt von ihren Minaretten den Schutz Gottes erflehen und ich mich in ein Gebäude flüchten will. Ahmed breitet auf der Straße seine Arme aus und drückt mich fest an seine Brust. Drückt sein Gesicht in meinen Nacken. Ich möchte ihn hinter die Mauern des Hauses ziehen, aber Ahmed sträubt sich, mit unbestimmtem Lächeln, und läuft weiter die Gasse hinab.

Es war lange ruhig geblieben in diesem Teil Syriens, nur sieben Kilometer hinter der türkischen Grenze. Die Zentren der Revolution lagen weit entfernt, in Homs, in Hama und Daraa. Doch haben sich in dieser Region immer mehr Dörfer aus dem Assad-Regime herausgelöst. Sie verjagten die Bürgermeister der Staatspartei, die Polizisten und die Spitzel. Hier entsteht ein neues Syrien, Assad beherrscht nur noch kleine isolierte Areale. Von der Grenze bis 40 Kilometer ins Land hinein sind die meisten Ortschaften der Kontrolle des Staates entglitten, darunter mehrere kleine Städte; die größte davon: Azaz.

Die Armee beschränkt sich meist auf Bombardements aus der Ferne

Dieser unscheinbare Ort, so hoffen die Rebellen, könnte für die syrische Revolution das werden, was die Stadt Bengasi für die Rebellen in Libyen war: Hauptquartier und Rückzugsraum. Der Anfang vom Ende Assads. Nicht die Rebellentruppe der Freien Syrischen Armee (FSA) ist hier belagert, sondern die syrische Armee. Was in Azaz geschieht, ist ein Trend im ganzen Land. Die Regierungstruppen schaffen es nicht mehr, Gebiete dauerhaft zurückzuerobern. Die heimliche Waffenhilfe aus dem Ausland zeigt Wirkung. Jeden Tag verlieren die Assad-Truppen Checkpoints und Basen. Nach Monaten scheinbaren Stillstands laufen immer mehr Soldaten zu den Rebellen über. Jede Bodenoperation birgt die Gefahr von Desertionen. Deshalb beschränkt sich die Armee in vielen Gebieten auf das Bombardement aus der Ferne. Dieser Beschuss macht jedoch nicht nur die Beschossenen mürbe, sondern allmählich auch die Schützen.

Der Tag, an dem ich Ahmed treffe, hat morgens um 5.40 Uhr mit zwei schweren Explosionen begonnen. Das Beben des Bodens weckt mich, neben mir dreht sich Jamal auf seiner Matratze um. »Unsere Leute«, murmelt er, »sie haben den Angriff begonnen.« Seit zwei Wochen rennt die FSA in der Stadt gegen den letzten Armeestützpunkt an. Jamal ist der Leiter des örtlichen Medienzentrums des Aufstandes. Zwölf Aktivisten arbeiten in unserem Versteck rund um die Uhr, in Schichten, es sind Universitätsstudenten unterschiedlichster Fakultäten. Jamal, der englische Literatur studierte, schläft wieder ein. Er ist in diesen Tagen mein Begleiter, mein Beschützer, Gastgeber, manchmal auch Zensor. Abdul, massig und kurzatmig, steht lange vor dem Spiegel im Innenhof, er kämmt sich sorgfältig die lichten Haare. Dann geht er.

»It’s game time«, ist auf sein T-Shirt gedruckt. Er wird auf das höchste Wohnhaus steigen und eine Liveschaltung einrichten. Abdul schaut von dort oben aus auf die ganze Stadt, den rosablauen Himmel des frühen Morgens über sich. Im Westen sieht er das Quartier der Militärpolizei, die Bastion der Assad-Truppen. 300 Mann und ein Panzer sollen hier noch den Rebellen Widerstand leisten. Alle anderen Feuerstellungen hat die Armee in den vergangenen Wochen räumen müssen. Die Soldaten haben faustgroße Löcher in die Wände ihrer Festung gebrochen, durch die sie nach außen feuern. Scharfschützen sitzen in den beiden Minaretten der angrenzenden Moschee. »Meide die Türme«, hat mich Jamal gewarnt. Im Süden sieht Abdul den Militärflughafen von Minakh, wo die Hauptstreitmacht von Assad steht, die größte Basis der Region, 2000 Mann angeblich. Von dort beschießen schwere Artillerie, Panzer und Raketenwerfer die Stadt. Abdul wird die Kamera zwischen diesen beiden Orten hin und her schwenken. Heute übertragen drei arabische Fernsehsender live seine Bilder. Auch Al-Dschasira . Ein großer Erfolg. Üblicherweise riskiert Abdul sein Leben für revolutionäre Facebook-Foren und tausend Klicks am Tag. »Tausend Klicks sind super!«, sagt er.

Als das Bombardement einsetzt, die Artillerie aus der Ferne schießt, bleibe ich im improvisierten Medienzentrum, einem Haus mitten im Gassengewirr, Erdgeschoss, von allen Seiten geschützt, so ist das Kalkül. Ich höre über mir das Bersten der Explosionen, den trockenen Doppelknall der Panzergranaten, das pfeifende Röhren der Raketen. Um mich herum tippen ungerührt die Aktivisten auf ihren Laptops, sie sitzen auf dem Boden und laden eben aufgenommene Videos ins Internet. Hin und wieder werfen sie einen Blick auf den Fernseher, wo das Standbild von Abdul flimmert, um zu überprüfen, an welchen Plätzen in der Stadt die Granaten einschlagen. »Schau, die Moschee«, sagen sie, und: »Das Haus meines Onkels.«

Der Angriff der FSA schlägt fehl. Ihre Kommandeure hatten zu wenige Männer zusammengezogen, auch war ihnen nach dem ersten Ansturm die Munition ausgegangen. Drei bewaffnete Gruppen kämpfen in der Stadt, um die 1.000 Mann insgesamt, behauptet Jamal. Die größte Brigade wird von einem geführt, den alle nur den »Lehrer« nennen, ein freundlicher Islamist, der früher an einer Mädchenschule unterrichtete. Neue Rekruten müssen bei ihm zuerst eine 14-tägige theologische Schulung absolvieren und dann erst eine ebenso lange Schießausbildung. Die zweite Gruppe besteht vor allem aus ehemaligen Schmugglern, wie es missgünstig in der Stadt heißt. Diese Gruppe liegt mit allen im Streit, sie beansprucht alles Benzin für sich, entführt vermeintliche Anhänger des Regimes und lässt sie gegen hohe Lösegelder wieder frei. Sie hat auch elf Libanesen verhaftet, denen sie vorwirft, Kämpfer der schiitischen Hisbollah zu sein, die auf der Seite Assads stünden. Der Vorfall hat im Nachbarland zu tagelangen Straßenkämpfen geführt. Die dritte Brigade, die kleinste mit 50 Männern, hat in einer Schule Quartier bezogen. Ihr Führer ist ein übergelaufener Ausbilder der Assad-Armee, Abu Anas, 31, mit rötlich wallender Löwenmähne.

Jamal fährt mich durch die Stadt. Der Artilleriebeschuss hat etwas nachgelassen, nicht mehr alle fünf Minuten, sondern nur noch jede halbe Stunde schlägt ein Geschoss in den Häusern ein. Den Wagen, den Jamal durch die Straßen jagt, haben sie einem Assad-Getreuen weggenommen, sagt er. Jamal spricht davon, wie er sich verändert hat seit dem Ausbruch der Revolution. Hager sei er geworden, hart, rastlos. Der Student, der mit Begeisterung Shakespeare zitiert, nie ein Gewehr in der Hand hatte, will jetzt immer dringender selbst auf die gegnerischen Schützen schießen. »Schweine«, sagt er. »Nicht wert, zu leben.«

Die meisten Bürger sind geflohen – auf die Dörfer, nach Aleppo, in die Türkei

Wir fahren durch fast leere Straßen, in denen nur wenige Läden geöffnet sind. Die Menschen, die sich hinauswagen, schauen misstrauisch nach allen Seiten. Azaz versinkt in Müll. Das Provinznest ist zum Heerlager unterschiedlichster Rebellen geworden. Die meisten Bürger sind geflohen: in die umliegenden Dörfer, in die Türkei, nach Aleppo. Es ist alles so schnell gegangen, sagt Jamal. Er habe vor 14 Monaten die ersten Demonstrationen in Azaz organisiert, da seien sie zwei Dutzend gewesen.

Lange hätten sie friedlich demonstriert. Er erzählt, wie im vorigen August der erste Stein auf Polizisten geworfen, wie im Februar der erste Demonstrant erschossen wurde und danach zur Beerdigung 15000 Menschen kamen. Wie die Regierung Panzer und 2.000 Soldaten schickte, die zwei Einwohner erschossen und viele Geschäfte plünderten. Als die Truppe weiterzog, stürmten die Einwohner die Gebäude von Polizei und Geheimdienst. Bewaffnete FSA-Gruppen aus den Nachbarorten, die sich schon früher erhoben hatten, kamen zu Hilfe. Das war am 24. Februar. Damals stieg Jamal auf das örtliche Hauptquartier der Baath-Partei und hisste die Flagge des neuen Syriens. Dort weht sie bis heute.

An diesem Nachmittag schlägt eine Panzergranate in einer Wohnung nahe der Assad-Festung ein, tötet eine 70-Jährige und ihre 20-jährige Enkelin.

Mitglieder des Übergangsstadtrats von Azaz
In einem ehemaligen Kulturzentrum versammeln sich zur gleichen Zeit die Mitglieder des Übergangsstadtrates. Es sind die Vertreter des alten Azaz, die Reste der Intelligenz, Lehrer, Ingenieure, ein Buchhändler. »Wir wollten vermeiden, dass Chaos ausbricht«, sagt Abu Osman, der Vorsitzende, ein Bauunternehmer. Vor zwei Monaten haben 70 Wahlmänner ein siebenköpfiges Komitee aus ihren Reihen gewählt. Sie diskutieren die Neuorganisation der Müllabfuhr, damit in der Stadt keine Seuchen ausbrechen, sie verteilen das rare Benzin, streiten mit der FSA um Ressourcen. Seit Wochen erreicht sie kein Tanklaster mehr, immer mehr Autos stehen still. Der bisherige Bürgermeister, ein Assad-Getreuer, ist im Februar geflohen. »Dem ist es nur ums Geld gegangen«, klagt Abu Osman. Für alles habe man auf der Stadtverwaltung Bestechungsgelder gezahlt, zehn Euro beim Abholen des Personalausweises, 1.000 Euro für das Eröffnen eines Ladens. Er selbst habe im Schnitt zehn Prozent der Auftragssummen für Schmiergelder ausgeben müssen. Nach dem Sieg der Revolution werde in Azaz alles besser sein, sagen die Männer, vor allem gerechter. Wie sie das anstellen werden? Verlegenes Schweigen. Noch haben sie nicht viele Pläne über das Überleben hinaus.

Der Beschuss wird nach Einbruch der Dunkelheit intensiver, in der Nähe des Medienzentrums verletzt eine Rakete zwei Brüder, zehn und elf Jahre alt. Ich treffe sie im Behandlungsraum der Klinik. Der eine kauert auf einem Hocker, der andere auf einer Trage. Metallsplitter in den Armen und Beinen, aber zum Glück nicht tief. Unter Schock stieren beide in den Raum. Fast alle der zwölf Ärzte, die bis zum Ausbruch der Kämpfe in der Klinik arbeiteten, sind geflohen, nur einer nicht. Er hat seit Tagen nicht mehr richtig geschlafen, Schweiß auf der Stirn, Blut auf dem Kittel. Blut ist überall, Blut dieser Nacht, Blut der Tage davor, an den Wänden und auf dem Boden. Ein 14-Jähriger wird eingeliefert, das linke Bein zerfetzt, Granatsplitter im Rücken. Eine halbe Stunde müht sich der Arzt, den Blutverlust zu stoppen, den Kreislauf zu stabilisieren. Diese Klinik in Azaz ist die einzige funktionierende nördlich von Aleppo. »Wir können nur Erste Hilfe leisten«, sagt der Arzt.

Den Jungen übergibt er dem Fahrer einer Ambulanz, die an die türkische Grenze rast, zu einer Lücke im Zaun, wo auf der anderen Seite ein Krankenwagen des Nachbarstaates wartet. Die beiden Wagen fahren im Grenzstreifen aufeinander zu, bis sich die Stoßstangen fast berühren. Der Junge wird von einem Fahrzeug in das andere gehoben. Die Weiterbehandlung übernimmt ein türkisches Krankenhaus. Der kleine Grenzverkehr zwischen dem FSA-kontrollierten Syrien und der Türkei funktioniert immer glatter. Unter Aufsicht des türkischen Militärs fahren Kolonnen von Reisebussen heran, auf geschotterten Seitenwegen, unter Umgehung der offiziellen Grenzübergänge. Hunderte Flüchtlinge verkehren so zwischen den Ländern. Die FSA versteckt sich an der Grenze nicht länger, sie zeigt Präsenz, hat von den Assad-Truppen aufgegebene Wachtposten übernommen und ihre neue Flagge auf die Masten gezogen. Nur die offiziellen Übergänge werden noch von der Regierung gehalten. Die FSA hat sie offenbar vom Umland weitgehend abgeschnitten. Nur über Luftbrücken kann sie die Regierung versorgen.

Im Medienzentrum klatscht Jamal in die Hände: »Gute Neuigkeiten!« Alle Jungs haben sich wieder in dem Haus in der Altstadt versammelt, mit ihren Videoaufnahmen, die sie den Tag über gemacht haben, auch Abdul, der vom Hochhaus gestiegen ist. Jamal hat mit einem Soldaten gesprochen, einem Überläufer, der an diesem Morgen aus der Assad-Festung floh. »Der sagt, dass es jetzt nur noch 62 sind! So wenige! Wir dachten bisher immer, es seien 300.« Die FSA hat für den nächsten Tag einen weiteren Angriff angesetzt, der besser vorbereitet sein soll. Abdul wird ganz früh mit seiner Livekamera wieder auf das Hochhaus gehen, trotz Warnungen. Auch die Armeeführung schaut fern. Sie kennt jetzt sein Versteck. »Es gibt im ganzen Ort keinen besseren Ausblick!«, sagt er. Bis tief in die Nacht sind die Räume des Medienzentrums erfüllt mit den Geräuschen der Videos, mit dem Schreien und Brüllen dieser Stadt.

200 Frauen und Kinder sind in die Kellerräume geflüchtet

Den nächsten Morgen verbringe ich im Treppenhaus des Nachbargebäudes, das massivere Wände hat. Es hagelt wieder Granaten auf Azaz. Rund um den Armeestützpunkt toben Straßenkämpfe. In die Kellerräume haben sich 200 Frauen und Kinder geflüchtet, einige stecken sich zusammengeknüllte Papiertücher in die Ohren. Es soll nur zwei dieser Schutzkeller in Azaz geben. Die Mütter versuchen, ihre Kleinen ruhig zu halten, spielen mit ihnen, einige weinen. Viele beten leise. Oder starren still vor sich hin. Die Männer servieren mir im Bombardement ein Frühstück aus Tee und Falafel.

Es gelingt den Rebellen, einen Teil der Assad-Bastion zu erobern, das frühere Bürgermeisteramt. Sie haben einen 30-Kilo-Sprengsatz an der Außenwand gezündet. »Ich bin mit der Bombe auf den Schultern zwei Stunden lang an der Wand entlanggekrochen«, strahlt ein Hochgewachsener aus der Brigade von Abu Anas. In der Schule, der Basis der Brigade, herrscht ausgelassene Stimmung. Nur einer lacht nicht: der Soldat, der am Vortag überlief. Er ist 20 Jahre alt, Hauptgefreiter, große jungenhafte Augen, hänflingsdünn. Seine Fingerspitzen zittern beim Erzählen. »Ich hätte dich vorgestern noch erschossen«, zeigt Abu Anas grinsend mit der Hand auf ihn. »Ich war mit dem Herzen seit Langem einer von euch!«, sagt der Überläufer. »Die Offiziere haben uns gesagt, das sind alles Kriminelle, ihr müsst sie beschießen.« Um seine neue Loyalität zu beweisen, hat er Abu Anas den idealen Ort für die Platzierung der Bombe verraten. Ein blutiger Initiationsritus.

Den Oberkörper nach vorne gebeugt, erzählt der 20-Jährige mit gesenktem Blick, dass dem Stützpunkt die Lebensmittel ausgingen, seit zehn Tagen nichts mehr zu ihnen durchgekommen sei. Der Versuch, mit dem Hubschrauber Brot abzuwerfen, sei gescheitert. Allmählich erkannten die Eingeschlossenen, wie prekär ihre Lage ist. Von den 30 Soldaten, mit denen er vor einem Monat nach Azaz verlegt worden war, seien vier getötet und zehn verletzt worden. Die Disziplin werde immer schlechter. »Die Soldaten fürchten die Offiziere nicht mehr.« In einem Streik hätten sie durchgesetzt, private Handys zu besitzen. Damit sie mit ihren Familien telefonieren können. »Wir hatten einfach unsere Wachen nicht mehr besetzt.« Doch noch immer sei es lebensgefährlich zu desertieren. Eine Handvoll alawitischer Scharfschützen halte die Truppe zusammen.

»Ich will nicht mehr kämpfen«, sagt ein zweiter Überläufer in der Brigade von Abu Anas, als er sich sicher ist, dass es die anderen nicht hören. Er ist Feldwebel, bis vor wenigen Stunden Mitglied der Panzereinheit, die Azaz vom Militärflughafen aus beschießt. »Ich habe es so satt, diesen Krieg.« 90 Prozent der sunnitischen Soldaten gehe es wie ihm, sagt er. »Die Armee weiß, sie ist schwach.« Er sei Zeuge von Massakern geworden, bei denen seine Einheit Frauen und Kinder erschossen habe, nur weil sie bestimmten Familien angehörten. »Assad lügt. Wir erschießen nicht nur Terroristen. Jeder Soldat weiß, dass das Blödsinn ist.« Auch die Rebellen zwängen ihn nun, zu kämpfen. »Ich frage mich die ganze Zeit, wie komme ich da raus?«

Weil Abu Anas heute guter Laune ist, zeigt er das Dokument eines weiteren Sieges seiner Brigade. Sie haben am Vortag den Distriktchef des Geheimdienstes verhaftet, ihm auf der Nationalstraße aufgelauert. Er sei für den ersten toten Demonstranten in Azaz verantwortlich. Abu Anas sucht auf seinem Handy nach der Datei, dann spielt er die Aufnahme ab: ein älterer Herr, das Gesicht blau geschlagen, der seinen Oberkörper hin und her wiegt. Knapp davor, das Bewusstsein zu verlieren. Er kann die Augen kaum offen halten, dann hört man das Rasseln eines Elektroschockgeräts, und Abu Anas drückt rasch auf Stopp. Es gibt Feldgerichte, vor denen für gefangene Assad-Leuten drei Möglichkeiten bestehen: Du schließt dich uns an. Oder du kaufst dich frei. Bei Angeklagten, denen man einen Mord nachweisen kann: Du wirst erschossen. Dieses Urteil droht dem Geheimdienstmann.

Das Land ist in viele kleine Parzellen zersprungen, Risse tun sich auf, zwischen den Dörfern, durch die Dörfer. Keine Kriegspartei hat die Übersicht. Das Telefon von Abu Anas klingelt: einer seiner Checkpoints vor der Stadt. Die Männer berichten, im Niemandsland zwischen FSA und Militärflughafen hätten Panzer einen Minibus beschossen, vier Kilometer vor der Stadt. Niemand traut sich zu den Leichen und den Verletzten. Abu Anas bricht auf, leiht sich einen Pritschenwagen, holt von der Straße, was vom Busfahrer noch übrig ist. Ein blutiger Torso. Den Kopf kann er in der Hast nicht finden. Eine zweite Leiche liegt da, den Schädel zur Hälfte eingedrückt. Der Panzer hatte frontal auf die Windschutzscheibe gezielt. Zehn Lehrer aus Aleppo waren mit dem Minibus auf dem Rückweg gewesen, sie hatten Schulprüfungen in der Nachbarstadt Afrin abgenommen. Dort herrscht noch Assad und die mit ihm verbündete Kurdenpartei PKK. Eine weitere Komplikation in der Region. Ein bewaffneter Konvoi aus zehn Fahrzeugen mit PKK-Fahnen nähert sich Azaz. Der Fahrer des Busses war Kurde. Sie wollen seine Leiche mitnehmen – und klären, wer verantwortlich für seinen Tod ist.

Es ist eine heikle Situation, selbst Jamal ist nervös. Abu Anas lacht alles weg, er drückt die PKK-Abgesandten, nimmt sie in den Arm. Er hat seinen Checkpoint angewiesen, nur zwei der zehn Fahrzeuge in die Stadt zu lassen. Zum ersten Mal nach Ausbruch der Kämpfe sind PKK-Kämpfer in Azaz. In einem Klassenzimmer der Schule sitzen sie dann im Kreis. Abu Anas versucht, aufzuklären. Die Kurden verdächtigen anfangs die FSA. Dann, nach wenigen Minuten, setzt plötzlich wieder Beschuss ein. Über der Stadt kreist ein Hubschrauber der syrischen Luftwaffe, er feuert mit Raketen und schwerem Maschinengewehr in die Straßen. Und mit einem Mal bekämpfen Kurden und FSA gemeinsam den Angreifer. Abu Anas läuft hinauf auf das Dach und schießt mit seinem Maschinengewehr. Im Erdgeschoss, in der offenen Tür, stehen PKK-Schützen und feuern ebenfalls. Das ganze Gebäude dröhnt vielfach vom Widerhall.

Im Medienzentrum hoffen die Aktivisten auf neue Waffen. Vor einem Monat seien zwei Truckladungen panzerbrechender Raketen aus Libyen angekommen. Sie seien auf die Brennpunkte der Revolution verteilt worden, auf Homs und Daraa. »Als Nächstes sind wir dran«, sagt Jamal. Er habe kürzlich einen zehntägigen Workshop in der Türkei besucht, mit Libyern, Türken und Vertretern der Golfstaaten, mit denen sie die Übergabe der Raketensysteme diskutierten. Wer genau dort mit ihnen redete, will er nicht sagen. »Sie wollen uns die Raketen nur Stück für Stück geben, damit sie nicht in die falschen Hände geraten«, erklärt Jamal. Bisher kämen die meisten Waffen, Gewehre vor allem, aus den sunnitischen Gebieten des Iraks.

In der Klinik operieren der Arzt und seine Helfer jetzt unentwegt. Taumelnd bewegen sie sich durch die Flure. Die Splitter der Helikoptergeschosse jagen über die Häuser. Das Feldkrankenhaus in der Nachbarprovinz Idlib ist vor wenigen Tagen durch eine Helikopterattacke zerstört worden. »Den gefährlichsten Ort der Stadt« nennt Jamal das Lazarett. »Die Armee weiß, wo unsere Klinik ist. Sie hätte längst umziehen sollen.« Viele Leichtverletzte kommen heute zur Erstversorgung. Ein Kämpfer verzieht das Gesicht, als der Arzt eine Pinzette durch eine fünf-Cent-Stück-große Wunde in der Wange führt. »Wir haben keinen CT-Scan«, sagt der Arzt. »Also muss uns der Schmerz zum Splitter führen.« Er dreht die Pinzette im Fleisch, Blut fließt aus der Wunde, über Wange und Kinn, dann hat er es. Ein winziges Körnchen. Er hält es vor die Augen des Verletzten. »Das ist nicht schön für den Patienten«, sagt der Arzt, sich die Handschuhe abstreifend. »Aber wir haben bei der Behandlung kein anderes Hilfsmittel als den Schmerz.«

*Alle Namen geändert, d. Red.