Matthias Monroy
Zur Sommerpause will die italienische Justiz alle größere Strafverfahren gegen Demonstranten und Polizisten abschließen. Erst dann folgen Zivilverfahren
Beinahe elf Jahre nach dem G8-Gipfel 2001 stehen alle Strafverfahren in Italien vor dem endgültigen Urteilsspruch der dritten und letzten Instanz. Im Mai wurde vom Obersten Gerichtshof ("Kassationsgericht") bereits Urteile gegen Polizisten und Sanitätspersonal im sogenannten "Bolzaneto-Verfahren" bestätigt. Der frühere Polizeichef Italiens darf indes seine Beförderung zum Geheimdienstkoordinator behalten: Eine Haftstrafe wurde aus Mangel an Beweisen aufgehoben, sein Amt des Staatssekretärs auch unter der Regierung Prodi bekräftigt.
98 Jahre Haft für zehn Personen – das war vor drei Jahren der drakonische Urteilsspruch in dem einzigen großen Verfahren gegen Aktivisten, das nach dem G8-Gipfel in Genua übrig blieb. Das Berufungsgericht ging sogar über das Strafmaß der ersten Instanz hinaus. Insgesamt waren 25 Demonstranten angeklagt – 15 erkämpften Freisprüche oder kamen mit Verjährung davon. "Das ist kein Urteil, das ist ein Racheakt", hatte die Mutter des beim G8 getöteten Carlo Giuliani das Urteil damals kommentiert.
Gegen die zehn Demonstranten wurden Haftstrafen zwischen sechs und 15 Jahren verhängt.
Ihr Vergehen nennt sich "Plünderung und Verwüstung", was in Deutschland als schwerer Landfriedensbruch abgeurteilt wird – zuzüglich einer Verschwörung, die laut Gericht darin besteht, im Falle von Ausschreitungen nicht eilig das Geschehen zu verlassen. Zum Zuge kam der sogenannte Codice Rocco, ein Paragraf aus der Zeit des Faschismus. Er soll Vergehen ahnden, die gemeinschaftlich begangen werden.
Demonstranten wegen Notwehr freigesprochen
Viele Vorwürfe drehen sich um Sachbeschädigung. Dieses Property Damage wurde unter der entstehenden globalisierungskritischen Bewegung in Europa nach dem Gipfel der Welthandelsorganisation in Seattle 1999 populär: Im Rahmen von Demonstrationen werden die Fassaden von Banken oder multinationalen Konzernen besprüht, Schaufenster eingeworfen oder Filialen ausgeräumt.
Aber auch für Angriffe auf die Polizei wurden einige Demonstranten in Genua in erster Instanz verurteilt. Polizisten hatten eine genehmigte Demonstration attackiert, obwohl sie vom Einsatzzentrum in eine andere Gegend geschickt worden waren. Dafür schalteten sie schlicht das Funkgerät aus – und konnten so ungestört und unter den Augen Hunderter Journalisten den Demonstrationszug mit Tränengas angreifen. Im Verlauf dieser Straßenkämpfe wurde der 21jährige Carlo Giuilani von einem Polizisten des Verteidigungsministeriums getötet.
Doch das Berufungsgericht hatte die Verurteilungen zurückgenommen: Denn es war offensichtlich und auch gerichtlich nachgewiesen, dass der Angriff der Polizei illegal war. Deshalb bekamen viele der Angeklagten das Recht auf Notwehr zugesprochen. Ein Film der Genueser Solidaritätsgruppe Segreteria Legale dokumentierte dies zuerst eindrucksvoll im Gerichtsaal. Unter den Freigesprochenen war selbst Massimiliano Monai, der zusammen mit Carlo Giuliani ein Polizeifahrzeug bedrängte, das zu einem Trupp Polizisten gehörte die zuvor die Demonstranten angegriffen hatten. Das Bild des Demonstranten, der mit einem Brett die Scheibe des Jeeps einschlägt, aus dem dann der 21jährige erschossen wurde, ging damals um die Welt.
Racheakt der Polizei
Neben den Demonstranten steht auch ein Teil der italienischen Polizeien wegen brutaler Angriffe auf Demonstranten und für die Misshandlungen Festgenommener vor Gericht. Am Montag begann in Genua erneut der Prozess gegen 25 Angehörige der Polizia di Stato, die wegen einer blutigen Razzia in der als Schlafstätte genutzten "Diaz-Schule" angeklagt sind. Beamte des römischen Aufstandsbekämpfungskommandos "VII Nucleo Antisommossa" hatten mit anderen Einheiten die Grundschule unter dem Vorwand gefälschter Beweismittel gestürmt. Der offensichtliche Racheakt nach Ende des Gipfeltreffens war derart brutal, dass zwei Drittel der 93 Anwesenden mit teilweise lebensgefährlichen Verletzungen ins Krankenhaus gebracht werden musste.
Bereits in erster Instanz wurden 13 Angehörige der Polizei verurteilt, während 16 aus Mangel an Beweisen freigesprochen wurden. Die Staatsanwälte hatten 26 Verurteilungen mit insgesamt 109 Jahren und 9 Monate Haft beantragt. Im Berufungsverfahren im Mai 2010 korrigierten die Richter die Schuldsprüche nach oben: Gegen führende Beamte wurden Haftstrafen bis zu fünf Jahren verhängt, nur einer kam mit Freispruch davon, während die Vergehen von zwei weiteren als verjährt betrachtet wurden.
Auch in einem anderen spektakulären Prozess wurden Urteile gegen Polizisten und medizinisches Personal bestätigt. Der Oberste Gerichtshof hatte kürzlich alle Berufungen wegen Übergriffen in der Polizeikaserne Bolzaneto verworfen. Polizei und Carabinieri hatten dort rund 300 Verhaftete mit Schlägen, Beleidigungen und systematischen Demütigungen misshandelt. Betroffene mussten in den Zellen stundenlang mit dem Gesicht zur Wand stehen und waren Schlafentzug, Androhung sexueller Gewalt sowie CS-Gas ausgesetzt. Unter den Verurteilten ist auch der durch seine Brutalität aufgefallene Gefängnisarzt Giacomo Toccafondi, der Verletzten die Behandlung verweigerte und sich stattdessen an Misshandlungen beteiligte. Wenn überhaupt, werden wohl nur Toccafondi und sechs Polizisten ihre Haftstrafen zwischen zwölf Monaten und drei Jahren antreten müssen. Die übrigen profitierten bereits in zweiter Instanz von der kurzen Verjährungsfrist für Staatsbedienstete.
Im Bolzaneto-Verfahren hat das Kassationsgericht auch das Recht auf Entschädigung untermauert. Den Klägern war bereits in erster Instanz – abhängig von der Schwere der Misshandlungen - mehrere Tausend Euro zugesprochen worden. In zweiter Instanz wurden die Ausgleichszahlungen sogar erhöht. Obwohl die Zahlung zur sofortigen Vorauszahlung erfolgen sollte, haben Betroffene davon nichts gesehen: Weil Personal verschiedener Polizeieinheiten beteiligt war, stritten sich das Justiz-, das Innen- und das Verteidigungsministerium um die Verantwortung. Etwa 150 Kläger oder Nebenkläger sollen nach dem jüngsten Urteil von den Ministerien, aber auch den angeklagten Polizisten und Medizinern rund 10 Millionen Euro erhalten.
Eiliger Wechsel eines Richters im Diaz-Verfahren
Obwohl die lange Dauer des Diaz-Verfahrens überrascht, bleibt die italienische Justiz doch im Zeitrahmen: Vorgeschrieben ist der Prozess bis spätestens Ende September 2013. Die Fünfte Kammer des Obersten Gerichtshofs will auch hier ein Urteil in letzter Instanz sprechen. Das Urteil wird für Freitagabend erwartet. Vermutlich wird über die Verhandlung vorher nichts zu erfahren sein – obschon Aktivisten in früheren Verfahren Audioaufnahmen ins Netz gestellt hatten und Prozessberichte beinahe in Echtzeit gefertigt hatten. Denn das Oberste Gericht hat jegliche Audio- und Videoaufnahmen untersagt. Neben Fotoapparaten sind auch Dokumentationen mit Mobiltelefonen verboten.
Bereits jetzt hat der Generalstaatsanwalt Peter Gaeta durchblicken lassen, dass er die Angeklagten nicht wegen der Anwendung von Folter verurteilen will. Wiederholt hatten Bürgerrechtsgruppen und Anwälte problematisiert, dass Italien zwar die Europäische Konvention zur Verhütung von Folter ebenso unterzeichnet hat wie eine entsprechende Vereinbarung der Vereinten Nationen. Jedoch hat die Regierung bislang kein Gesetz erlassen, das die Umsetzung regelt. Die internationalen Verträge regeln auch die Verfolgung unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung wie in der Diaz-Schule.
Für Verwirrung sorgte auch ein Wechsel im Richterkollegium, der im April erst kurz vor Beginn des Verfahrens erfolgte. Zwar gilt der neue Richter Juliana Ferrua, der den Vorsitz der Fünften Kammer innehat, als erfahrener Jurist des Obersten Gerichts. Jedoch ist fraglich, inwiefern er sich überhaupt auf den Fall vorbereiten konnte. Denn nach internen Tabellen, die eine Komplexität von Gerichtsverfahren beurteilen helfen, ist das Diaz-Verfahren immerhin mit 8,5 bewertet – von möglichen zehn Punkten.
Kein Polizist hat bislang eine Strafe angetreten. Im Gegenteil: Viele der führenden Beamten wurden weiter befördert. Giovanni Luperi, der frühere Leiter der Koordinationsstelle der politischen Polizei UCIGOS, ist heute Chef des Auslandsnachrichtendiensts ISE. Spartaco Mortola, ehemals Chef der genuesischen politischen Polizei DIGOS, leitet heute die auch fürs Abhören zuständige Abteilung für Telekommunikation. Sein früherer Stellvertreter Allessandro Perugini ist als Personalchef des Polizeipräsidiums tätig, obwohl Videos seine Misshandlung eines Minderjährigen belegen.
Eine der wichtigsten Personen in der dubiosen Sicherheitsarchitektur des G8-Gipfels kam nur knapp davon: Es gebe keine Beweise, so die Richter, dass der damalige italienische Polizeichef Gianno De Gennaro von gefälschten Beweismitteln in der Diaz-Schule wusste. Damals wurden zwei Molotov-Cocktails, die tagsüber in der Innenstadt konfisziert worden waren, in einer Plastiktüte in die Diaz-Schule gebracht. Wie ein ebenfalls vorgetäuschter Messerangriff konnten die Fälschungen allerdings vor Gericht entlarvt werden. De Gennaro mauserte sich unter Berlusconi zum Koordinator der Geheimdienste. Den Posten durfte er behalten: Im November sprach ihn der Kassationsgerichtshof in dritter Instanz frei.
Verfahren erst in dritter Generation gewonnen?
Womöglich müssen also 11 Jahre nach dem G8 mehrere Demonstranten viele Jahre im Gefängnis sitzen. Es ist zu vermuten, dass auch nicht alle Strafen nach einiger Zeit verkürzt werden. Manche der Angeklagten haben die Taten nicht nur gestanden, sondern stehen auch dazu. Mehrere jetzt lancierte Solidaritätsaufrufe erinnern daran, dass damals 300.000 Menschen in Genua protestiert hatten. Der Vorwurf "Plünderung und Verwüstung" treffe demnach genauso auf die Repräsentanten der G8-Staaten zu. Die damaligen Demonstranten fühlen sich angesichts der gegenwärtigen Finanzkrise nachträglich im Recht. Tatsächlich war Genua einer der unbestrittenen Höhepunkte globaler linker Bewegungen, weshalb sich sogar die G8-Gipfel in ländliche Gegenden wie die Rocky Mountains, die Alpen oder Mecklenburg-Vorpommern verzogen hatten.
Zum Beginn des Verfahrens wegen der polizeilichen Übergriffe in der Diaz-Schule haben Aktivisten jetzt eine Kampagne gestartet, die Unterschriften zur Freilassung der ebenfalls angeklagten Demonstranten sammelt. Bis zum 13. Juli, dem erwarteten Schuldspruch im Verfahren gegen die linken Aktivisten, sollen Demonstrationen, Medienberichte und kreative Proteste folgen. Ein weiterer Aufruf ruft ebenfalls zur Solidarität auf und kündigt Aktionstage und eine Demonstration anlässlich des Verfahrensbeginn in Rom an.
Auch nach den Strafverfahren wird die juristische Aufarbeitung längst nicht zu Ende sein: Viele Aktivisten werden die Behörden auf weiteren Schadensersatz verklagen. Zu den dann beginnenden Zivilverfahren kursiert unter den Klägern der Spruch, in Italien gewinne man ein Verfahren nicht in dritter Instanz, sondern in der dritten Generation.