In Bern formiert sich Widerstand gegen eine immer drastischere Politik der Stadtaufwertung, Musealisierung der historischen Altstadt und Einschränkung der Nutzungsmöglichkeiten des Öffentlichen Raumes.
Nachdem bereits am 12. Mai an die 5‘000
Menschen an einer spontanen Protestparty gegen die Politik der
Einschränkung im Öffentlichen Raum teilgenommen hatten, zogen am letzten
Samstag weit mehr als 15‘000 Menschen, von einer Vielzahl mobiler
Soundsystems begleitet, feiernd durch Berns Innenstadt. Unmittelbarer
Auslöser für die Proteste war der Versuch des Regierungsstadthalters
Christoph Lerch (SP), die Reitschule,
ein seit 25 Jahren bestehendes autonomes Kulturzentrum im Zentrum von
Bern, per 11. Mai mittels einer verschärften Betriebsbewilligung an die
kurze Leine zu nehmen. Als Hintergrund der Zwangsmaßnahmen ist das
allgemeine Bestreben das Nachtleben zu beruhigen und die Stadt als
Wohnort für Wohlhabende umzugestalten, zu sehen.
Es brodelt in Bern
Im beschaulichen Bern, das mittlerweile seit beinahe 20 Jahren von einer
Rot-Grün-Mitte Koalition regiert wird, hat sich in den letzten Monaten
und Jahren einiges getan: Schließung von Parkanlagen in der Nacht, neue
Nutzungsreglemente für Stadträume, Neubauprojekte mit Mietsteigerungen
bis zu 100% im Vergleich zum vorherigen Standard, eine immer repressiver
und dominanter auftretende Polizei, staatliche Vertreibungspolitik von
Randgruppen und; die Stadt wächst nach langen Jahren des
Bevölkerungsschwundes wieder.
Im Zuge der Politik der Aufwertung und Beruhigung der historischen
Altstadt, ihres Zeichen UNESCO-Weltkulturerbe, musste im Verlauf des
letzten Jahres bereits ein Ausgehlokale schließen und ein zweites ist
ernsthaft bedroht. Diverse weitere ClubbetreiberInnen kündeten an
ebenfalls schließen zu müssen, sollte die Situation so prekär bleiben –
Clubsterben war das Schlagwort. Primär war es die Politik des
Regierungsstadthalteramtes, das Lärmklagen gegenüber den Interessen der
Lokale stärker zu gewichten und allgemein die verwaltungsrechtlichen
Richtlinien enger auszulegen begann, die zur Verschärfung der Situation
führten. Hinzu kam, dass die in den Sommermonaten von Jugendlichen rege
als Treffpunkt genutzten öffentlichen Plätze immer stärker von Polizei
und privaten Sicherheitskräften kontrolliert und darüber strikte
Raumordnungen durchgesetzt wurden. Weitere vormals frei nutzbare Räume
wurden, indem sie kommerziellen NutzerInnen überlassen wurden,
teilprivatisiert. So etwa die Große und die Kleine Schanze, wo zwei
Citybeaches und ein Straßenkaffee errichtet wurden. Hierbei zeigten sich
die StadtpolitikerInnen findig und deklarierten die Vermarktlichung des
Öffentlichen Raumes zur Anti-Gewaltmaßnahmen, über welche die
Stadträume sicherer und zugänglicher gestalten werden sollten.
Die Reitschule und ihr Vorplatz
Die Anfang Mai von Regierungsstadthalter Lerch gegen die Reitschule
verfügten Zwangsmaßnahmen brachten das Fass dann zum Überlaufen und
lösten die aktuellen Proteste aus. Denn der Vorplatz der Reitschule, wo
sich Wochenende für Wochenende hunderte Menschen treffen, war zu einem
der letzten Orte geworden, wo ohne Konsumzwang und polizeiliche
Repression ein Zusammenkommen möglich war. Aufgrund von diversen
Lärmklagen, die aber mit gesamthaft 81 im Jahr 2011, davon 25 aus einer
einzigen Nacht, in der Summe marginal ausfielen, verfügte Lerch, dass
die BetreiberInnen des autonomen Kulturzentrums vom 11. Mai an, nach
00:30 keinen Alkohol mehr über die Gasse verkaufen dürften und die
BesucherInnen vom Vorplatz und aus dem Innenhof der Reitschule
wegzuweisen seien. Damit setzte Lerch seine bereits im Februar geäußerte
Drohung, dass nun, nachdem mit anderen Ausgehlokalen neue
Betriebsvereinbarungen ausgehandelt wurden, die Reitschule an die Reihe
komme, in die Tat um.
Die Zwangsmaßnahmen sind aber kein Einzelfall und reihen sich in
jahrelange und vielfältige Versuche ein, die Reitschule konformer und
unpolitischer zu gestalten. Denn gerade rechtsbürgerlichen Kreisen war
die Reitschule stets ein Dorn im Auge, da diese sich explizit als Ort
versteht, wo Freiräume für selbstbestimmtes und solidarisches Leben
geschaffen werden und an alternativen Gesellschaftsmodellen aktiv
gearbeitet werden kann – also bei weitem nicht "nur" alternative Kultur
dargeboten wird. Aber gerade die immer wieder aufflammende Gewalt, die
sich teilweise auch gegen die Polizei richtete, sowie die
Drogenproblematik, an welcher die Stadt allerdings mit der Ansiedlung
der Drogenanlaufstelle gegenüber der Reitschule, wesentlich mitschuldig
ist, werden zum Anlass genommen, das Projekt als Ganzes zu hinterfragen.
Dennoch vermochte die Reitschule in ihrer Geschichte bereits fünf
Volksabstimmungen für sich zu entscheiden und ist in der Stadt gut
verankert.
Der Aufschrei gegen die erneuten Restriktionen war daher groß und in
diversen Fällen wurde darauf verwiesen, dass die Reitschule aufgrund
ihrer Geschichte – sie war 1987 im Zuge der 80er Unruhen in Bern zum
zweien Mal besetzt worden – nicht mit einem ‚normalen‘ Ausgehlokal
gleichzusetzten sei und die Massnahmen nicht umzusetzen seien. Die
Stadtregierung schwächte sodann Lerchs Verfügung noch ab und stellte die
Rechtmäßigkeit gewisser Aspekte infrage, die neue Betriebsbewilligung
trat dennoch per 11. Mai in Kraft.
Impressionen aus Bern, 2. Juni 2012 (oben: Demozug, unten: Party vor dem Bundeshaus)
Die BetreiberInnen der Reitschule nahmen die Aufforderung ernst und
verwiesen sämtliche Anwesenden am 12. Mai um 00:30 des Vorplatzes. Die
sich nun in Richtung Innenstadt bewegenden Menschenmenge schwoll rasch
auf an die 5‘000 an und wurde von mobilen Soundsystems begleitet. Am
Samstag den 2. Juni demonstrierten erneut weit mehr als 15‘000 Menschen
unter dem Motto „Tanz Dich Frei 2.0“ gegen die immer stärkere
Einschränkung der Handlungsmöglichkeiten im Öffentlichen Raum. Die
VeranstalterInnen verblieben mit ihrer Kritik an der städtischen Politik
aber nicht auf der Ebene der Kritik an den Einschränkungen des „Rechtes
auf Party“, sondern verknüpften die repressiven Einschränkungen mit der
allgemein zu erkennenden Aufwertungs- und Standortpolitik der
Stadtbehörden. So streichen die OrganisatorInnen in ihrem Aufruf, der
auch als Apell gegen eine gezielte Entpolitisierung der Veranstaltung zu
lesen ist, deutlich hervor, dass „Tanz Dich Frei“ mehr als ein riesiges
Straßenfest sei, es im Gegenteil als „politische Botschaft an die
herrschenden, kapitalistischen Verhältnisse“ zu verstehen sei, dass
nicht alles akzeptiert werde, und es eine andere, eine solidarische
Gesellschaft anzustreben gelte, in der nicht „wenige vieles besitzen und
Viele nichts“.
Tendenz zur Aufwertung
Und in der Tat zeichnet sich in Bern immer deutlicher eine Politik ab,
die sich an den Interessen einer eher wohlhabenderen Schicht orientiert
und sozial trennend wirkt. Nur allzu deutlich wird dies im Konzept
„Bauliche Stadtentwicklung Wohnen“ das im Jahr 2007 vom
Stadtplanungsamt, das dem Stadtpräsidenten direkt untersteht, vorgelegt
wurde. Darin wird betont, dass es der Stadt primär darum gehen müsse
potente SteuerzahlerInnen anzuziehen und daher den BewohnerInnen der
Stadt klarzumachen sei, dass diesbezüglich ein parteiübergreifender
Konsens herrsche, da die Stadtfinanzen davon abhängen würden. Gemäß der
Strategie 2020 soll Bern zudem seine Standortvorteile weiter nutzen und
auf 140'000 EinwohnerInnen anwachsen (Stand 2012: 130‘000). Die
AufwertungsstrategInnen dürfte es daher gefreut haben, dass ‚ihre‘ Stadt
im diesjährigen Städteranking des Wirtschaftsmagazin „Bilanz“ zum
ersten Mal hinter Zürich und Zug den dritten Platz belegte.
Entwicklungsgebiete in Bern, Stand 2009, Zum Vergrößern auf Karte klicken
In vielen Stadtteilen zeichnet sich sodann eine Tendenz zur
Gentrifizierung ab. Insbesondere in den innenstadtnahen von Altbauten
geprägten Stadtteilen Lorraine, Längasse, Breitenrain, Holligen und
Mattenhof, ist eine erhebliche Mietsteigerung auszumachen oder es wird
zumindest immer schwerer günstigen Wohnraum zu finden. Die Situation
wird zusätzlich durch die vorangetriebene Politik der Aufwertung des
Stadtrandes prekarisiert. So liegt eine große Zahl der aktuellen
Entwicklungsschwerpunkte in Berns westlicher und östlicher Peripherie,
die bis anhin stark von günstigem Wohnraum und einer eher finanziell
schwachen BewohnerInnenstruktur geprägt war. Die dahinter liegende Logik
der Aufwertung wird vom Gemeinderat im Zusammenhang mit der „sozialen
und ethnischen Durchmischung“ explizit formuliert: „Sind die
Wohnbauprojekte im Westen realisiert, wird sich voraussichtlich auch die
demografische Zusammensetzung in diesen Quartieren verändern.“ Soziale
Aufwertung und Vertreibung sind somit unter dem Motto einer nachhaltigen
und familiengerechten Stadt – was die zentralen Schlagworte Berns
Stadtentwicklung sind – direkt von den StadtplanerInnen gewollt.
Soziale Vertreibung in der Innenstadt gehört in Bern indes seit Jahren
zum Alltag. Genau genommen war Bern die erste Schweizer Stadt die 1998
eine Fernhaltegesetzgebung (Wegweisungsartikel) einführte, die es
ermöglichte unliebsame Personen für drei Monate – anfangs gar für ein
Jahr – aus einer definierten Zone fernzuhalten. In der Praxis betraf es
in der Vergangenheit primär Obdachlose, Drogenabhängige und Punks.
Gerade in den letzten Jahren war aber eine deutliche Ausweitung der
Nutzung des Artikels festzustellen. So wurde der Paragraf 29b des
Kantonalen Polizeigesetzes, zunehmend gegen politische AktivistInnen im
Zusammenhang mit Demonstrationen eingesetzt. Diese Ausweitung der
Anwendung des Artikles 29b wurde von gerichtlicher Seite her in diversen
Fällen als widerrechtlich gerügt und die Verfügungen aufgehoben, was
die Polizei aber nicht daran hindert an dem Vorgehen festzuhalten. Die
Zahl der ‚normalen‘ Wegweisungen stagniert dabei aber seit Mitte der
2000er in etwa bei 450 pro Jahr, die Zahl der Anzeigen wegen
Wiederhandlung blieb aber hoch
Die Stadt spaltete sich so zunehmend. Soziale Vertreibung und Aufwertung
gehören seit Jahren zur aktiven Stadtpolitik, die Folgen werden aber
erst jetzt richtig spürbar. Viele können sich die steigenden Mieten oder
das Kaffee um die Ecke nicht mehr leisten und jene die zuziehen, wollen
nicht selten ‚ihre‘ Ruhe. Konflikte sind also vorprogrammiert und so
wächst der Unmut über das immer enger werdende Klima, die
Einschränkungen der Teilhabemöglichkeiten am Leben im Öffentlichen Raum
sowie die Schwierigkeit eine bezahlbare Bleibe zu finden.
Protest dürfte weiter gehen
Die Proteste der letzten Wochen hallen in der Bundeshauptstadt also
nach. Je nach politischem Standpunkt versuchen die Parteien den Protest
im Zuge des Wahlkampfes – im Herbst sind Wahlen – für sich zu
vereinnahmen oder reduzieren ihn auf ein jugendliches Saufgelage mit
immensem Müllaufkommen. Auch wenn wohl tatsächlich viele des Festes und
nicht der klaren politischen Positionierung des Anlasses wegen den Weg
nach Bern fanden, bleibt dennoch festzuhalten, dass Tausende junger
Menschen sich ungefragt den städtischen Raum angeeignet haben und damit
für einen kurzen Moment die herrschende Logik und bestehende
Besitzverhältnisse durchbrachen. Weitere Aktionen dürften daher folgen
und vom 6. bis zum 9. September 2012 wird in Bern ein „Recht auf Stadt“ Kongress
veranstaltet, an dem inhaltliche Auseinandersetzungen im Schnittfeld
von politischem Aktivismus, kritischer Wissenschaft und alternativer
Kunst angekündet sind.