Einiges deutet darauf, dass die Toten von Hula marodierenden Milizen zum Opfer fielen. Sie werden offenbar von Geschäftsleuten bezahlt, die um ihre Privilegien fürchte.
Wer tötete vor einer Woche kaltblütig 108 Menschen in Hula? Offenbar waren es bewaffnete Bürgermilizen aus nahe gelegenen alewitischen Dörfern, die als Shabiha bekannt sind, was von dem arabischen Wort für Geister abgeleitet ist. Der Begriff bezog sich ursprünglich auf Schmugglerbanden, die in den siebziger Jahren in der Küstenstadt Latakia aktiv wurden und offenbar über dem Gesetz standen. Es gab gute Gründe dafür, dass diese Banden unter dem Vater des jetzigen Präsidenten, Hafez al-Assad, prosperierten. In den Achtzigern standen syrische Truppen im Libanon, dessen Wirtschaft unter Versorgungsengpässen litt. Der Schmuggel von Waren in den Libanon wurde für Syrer mit guten Verbindungen zum Assad-Clan einer der besten Möglichkeiten, Geld zu verdienen.
Die Geier von Homs
Eine Folge dieser Schattenwirtschaft bestand in einer Reservearmee prekär beschäftigter, alewitischer Männer, die sich für das Regime, das die Paranoia zu einem Eckpfeiler des eigenen Überlebens gemacht hatte, als äußerst nützlich erwiesen. In der armen Gegend von Mazzeh, westlich von Damaskus, leben bis heute junge Syrer, die weitgehend alewitischen Glaubens sind, in Unterkünften, die Hafez al-Assad während der achtziger Jahre für sie errichten ließ. Die Gegend ist unter dem Namen Mazzeh 86 bekannt, weil die Bewohner 1986 aus der Provinz dort ankamen. Man hatte ihnen günstige Lebensmittel und subventionierte Unterkünfte versprochen.
Als im März 2011 die Proteste begannen, schwollen die Reihen der so genannten Shabiha an. Sie begannen, dem Regime ihre Schulden zurückzuzahlen, indem sie ihm viel von der schmutzigen Arbeit abnahmen, die entsteht, wenn Dissens unterdrückt wird. Als sich im Februar 2012 in Mazzeh 20.000 Leute spontan einer Beerdigung anschlossen, waren es nach Angaben der vom Guardian in Damaskus befragten Demonstranten Shabiha, die auf Protestierende schossen. Jedes Mal, wenn die Opposition in der Hauptstadt zu einem Begräbnis oder einem Meeting zusammenkam, warteten in angrenzenden Straßen lange Reihen von Männern in Zivil- oder Khaki-Kleidung auf einen Vorwand, um loszuschlagen.
Aber erst im Chaos des von konfessionellen Spannungen aufgeladenen Homs fanden die Shabiha so richtig zu ihrer Rolle als Schlägertrupps. Mohammed, Veteran und Aktivist der Opposition, sagte dem Guardian im Februar, die Shabiha würden die syrische Armee bei Razzien und an Kontrollpunkten unterstützen, hätten aber eine eigene Kommandostruktur und erhielten ihre Befehle von unbekannten Stellen: „Wenn die Soldaten ein Gebiet stürmen, in dem sich Rebellen aufhalten, sind die Shabiha bei ihnen, um die Bevölkerung zu terrorisieren und zu bestehlen. Sie tragen schwarz oder khaki, mit einem gelben Band auf der Schulter“, sagte Mohammed dem Guardian am 13. Mai. Die Shabiha seien in sein Viertel al-Shammas in Homs eingedrungen, in dem es zuvor relativ friedlich gewesen sei, und hätten dort ein Blutbad angerichtet. Seitdem Hunderttausende Bewohner Homs verlassen hätten, würden die Shabiha ganze Viertel beherrschen und Möbel aus den leeren Häusern entwenden. „Sie sind Geier“, sagt Mohammed. „Sie lassen nichts zurück.“
Ein anderer Aktivist, Abu Rami, meint, die Shabiha rekrutierten sich zu 90 Prozent aus den Reihen der Alewiten in Homs und umliegenden Dörfern. Zumeist seien es sehr arme oder mittellose Leute. Oft gingen sie unabhängig voneinander vor, entweder in Banden oder als Heckenschützen auf Dächern postiert, von wo aus sie die Rebellen-Gebiete überblicken. Ein gefährlicher Job: Die Freie Syrische Armee habe schon viele von diesen Shabiha getötet, sagte Abu Rami, doch es stünden viele bereit, um die Reihen wieder zu füllen.
Sie würden alles tun
Da die Wirtschaft am Boden liegt, sehen viele Alewiten für sich keine andere Möglichkeit, als sich den Shabiha anzuschließen. Andere lassen sich von der Regierung überzeugen, dass Syrien einer Verschwörung von al-Qaida, den Golf-Staaten und der NATO zum Opfer gefallen sei, und die Sunniten sich gnadenlos an ihnen rächen würden.
Doch woher kommt das Geld und wer gibt die Befehle? Die Antwort ist in der jüngeren Geschichte und den unausgegorenen Versuchen einer wirtschaftlichen Erneuerung zu suchen. Als sich Syrien 2005 aus dem Libanon zurückzog und dem Westen annäherte, stolperte es in eine dysfunktionale Art Marktwirtschaft. Eine neue Sorte Geschäftsmänner gelangte in Machtpositionen. In der Regel waren es Sunniten, die Verbindungen zu alewitisch dominierten Cliquen knüpften, die den syrischen Sicherheitsstaat kontrollierten.
Als die größten Profite nicht mehr aus dem Schmuggel, sondern aus rechtmäßigeren Geschäftsfeldern kamen, sicherte sich ein kleiner Kern von Leuten, die über gute Verbindungen verfügten, die Kontrolle über Industrie, Betriebsmittel, Lizenzen und Autogeschäfte. Es sind diese Geschäftsleute – von denen viele keine Alewiten, sondern Sunniten sind –, die nun stillschweigend Geld an die Shabiha geben. Sie tun es, um ihre geschäftlichen Privilegien zu schützen, aber auch, um ihre politischen Förderer bei Laune zu halten.
Die Schabiha hätten alles dem Regime zu verdanken, heißt es unter Oppositionellen in Damaskus, und sie würden alles tun, um es zu schützen. Im Februar berichtete ein Aktivist aus der Hauptstadt, er wisse über Freunde, dass die Shabiha 1.500 syrische Pfund (knapp 19 Euro) am Tag erhielten und so viel arbeiten müssten, dass sie ständig übermüdet wirkten. Doch es ist nicht der Staat, der zahlt. Abu Rami nennt zwei Geschäftsmänner, die er für die Geldgeber der Shabiha in Homs hält. Sie kooperierten mit dem Chef des dortigen Geheimdienstes, der eigene Leute an die Shabiha ausleihe oder ihnen arbeitslose Anwohner vermittle. Keine dieser Informationen lässt sich überprüfen. Zudem sind die Syrer überzeugt, dass jeder, der in der Geschäftswelt erfolgreich ist, auf irgendeine Weise seine Seele an das Regime verkauft haben müsse. Grundlos erscheint diese Vermutung nicht. Beginnend bei Rami Makhlouf, der ein Cousin des Präsidenten ist, handelt es sich bei den Kommandohöhen der syrischen Ökonomie um geschützte Lehen, die vom Umfeld des Assad-Clans und dessen Vertrauten kontrolliert werden.
Geld für Paramilitärs
Einige erstrangige westliche Firmen, die während des vergangenen Jahrzehnts Geschäfte im sich „modernisierendem“ Syrien Assads gemacht haben, dürften nun ebenfalls nervös werden. Im August 2011 präsentierte ein Aktivist der Opposition in Damaskus dem Guardian eine auf Grundlage vertraulicher Gespräche mit Damaszener Geschäftsleuten zusammengestellte Liste der größten geschäftlichen Gönner der Shabiha. Darauf standen Männer, die ihr Geld als exklusive Vertreter, Händler oder Lizenzhalter namentlich genannter britischer, japanischer und deutscher Autohersteller verdienten. Ein Teil der Profite geht zurück in die inoffizielle, paramilitärische syrische Tötungsmachine.
Schon während einer früheren, vornehmlich sektiererischen und gegen die Regierung gerichteten Mordkampagne, die sunnitische Muslimbrüder zwischen 1979 und 1982 führten, nutzte man als letzte Verteidigungslinie bewaffnete zivile Milizen. Damals allerdings ließen sich die aus den Rängen der herrschenden Ba‘ath-Partei rekrutieren. Das dies nun nicht mehr möglich ist, zeugt vom Schwund innerhalb der Partei, derer sich die Assad-Familie einst bediente, um an die Macht zu gelangen., An ihre Stelle ist augenscheinlich ein Netz von Familienbeziehungen, Geschäftsinteressen und angeheuerten Gehilfen getreten.
Übersetzung: Holger Hutt/ Zilla Hofman
Peter Kellier im Guardian, deutsch im Freitag