Die Präsidentenwahl ist nicht der einzige Gradmesser des Wandels. Was den Eliten im In- und Ausland wirklich Angst macht, ist die soziale Dimension der Revolte
Kaum etwas könnte das Weiterwirken des alten Regimes besser verdeutlichen als der Umstand, dass sich Hosni Mubarak letzter Premierminister um das Präsidentenamt bewirbt und Umfragen zufolge sogar Chancen hat, das Votum zu gewinnen. Sollte es Ahmed Shafiq nicht schaffen, ist auch ein Sieg von Ex-Außenminister Amr Moussa oder eines Vertreters der beiden islamistischen Lager denkbar, die von dem Bewerber der Muslimbruderschaft Mohamed Mursi und dem Ex-Bruder Abdel Munim Aboul Fotouh vertreten werden. Alle diese Möglichkeiten werden in den westlichen Medien als schwerer Schlag gegen den Geist des Tahrir-Platzes dargestellt.
Man könnte bei dieser Auffassung an tausend verschiedenen Stellen ansetzen und sie empirisch widerlegen. Von den Details mal abgesehen: Ist eine solch grundsätzliche Beurteilung überhaupt angemessen, um sich einen Begriff von der Revolution zu machen? Oder ist der Kampf um das Präsidentenamt nur die institutionelle Spitze eines weitaus größeren revolutionären Eisbergs? Nur ein Feld der Konfrontation unter vielen anderen, die für die politische und sozioökonomische Zukunft des Landes ebenso wichtig sind?
Die wirklichen Gräben
Der Debatte ist oft von zwei Missverständnissen geprägt: Zum einen von der Vorstellung, der revolutionäre Erfolg beschränke sich allein auf das Gebiet der institutionellen Politik und deren demokratischer Mechanismen. Zum zweiten gibt es die Bewertung, der Tahrir sei der einzige Ort und die so genannte „Facebook-Jugend“ der einzige Träger des Widerstandes gegen die herrschende Ordnung. Durch diese Verzerrungen entsteht eine Erzählung, die vielen Eliten im In- und Ausland zupass kommt, da sie das revolutionäre Potenzial in relativ sicheren Grenzen verortet. Wenn das ultimative Ziel der Revolution in der Etablierung „repräsentativer“ Institutionen besteht und der revolutionäre Fortschritt auf einer linearen Skala gemessen werden kann – an einem Ende der Autoritarismus der arabischen Diktaturen und am anderen der Heilige Gral der westlichen liberalen Demokratie –, dann lassen sich die Umrisse des politischen Wandels, die in der arabischen Welt losgetreten wurde, bequem in die weltweit herrschende Machtdynamik einpassen, um letztere in diesem Prozess gleichzeitig neu zu bekräftigen.
Tatsächlich reicht die ägyptische Revolution aber viel weiter und stellt eine sehr viel mächtigere und existenziellere Herausforderung für das gegenwärtige politökonomische Herrschaftssystem dar. Diese Energie ist es, die Nutznießer des Status Quo – von westlichen Regierungen bis hin zu multinationalen Konzernen – wirklich fürchten. Es überrascht kaum, dass die Mächtigsten der Welt – von Hillary Clinton und David Cameron bis Morgan Chase und General Electric – sich beeilten, gleichzeitig Bewunderung für Tahrir zu zeigen, die Rufe der Generäle nach „Stabilität“ zu wiederholen und Verbindungen zur größtenteils neoliberalen Muslimbruderschaft aufzubauen. Deren Politik dürfte – trotz besorgter Statement von Think Tanks – amerikanische Interessen kaum bedrohen, vielmehr jede Menge Möglichkeiten für diese bieten.
Alle Aufmerksamkeit richtet sich auf den Kampf zwischen Islamisten und Säkularen. Diese ist fraglos von Bedeutung, aber eben nur ein Schauplatz von vielen. Damit lässt sich geschickt das unzufriedene Rumoren totschweigen, das unter der Oberfläche zu hören ist. Solange in Ägypten die grundsätzlichen Dogmen der ökonomischen Orthodoxie à la Chicagoer Schule unangetastet bleiben, ist die politische Kluft mit bärtigen Männern auf der einen und Frauen, die kein Kopftuch tragen, auf der anderen Seite eine, der sich westliche Politiker und ägyptische Eliten gern hingeben.
Weniger gern nehmen sie die anderen Gräben zur Kenntnis, die an den Rändern der ägyptischen Gesellschaft ausgehoben werden und die diejenigen, die pharaonenhafte Reichtümer angehäuft haben, von denen trennen, die in Zonen neoliberaler Exklusion zurückgeblieben sind.
Weit größere Kämpfe
Man muss sich nicht weit vom Tahrirplatz entfernen, um diese sozialen Furchen zu finden. Sie lassen sich nicht auf einen Drei-Minuten-Bericht in den Primetime-Nachrichten zusammenfassen, denn sie sind so tief und werden von Nöten gespeist, die keiner der Präsidentschaftskandidaten innerhalb des bestehenden politischen und wirtschaftlichen Apparates zu beseitigen weiß. Die Ufer des Nils sind von informellen Siedlungen voll, deren Einwohner sich gegen die Sicherheitskräfte zur Wehr setzen, um der Vertreibung nach einer von der Regierung angesetzten Räumungskampagne zu entgehen. Es soll dort Platz für teure Ferienanlagen geschaffen werden.
Weiter flussaufwärts Richtung Norden in Damietta werden aus Protest gegen die Umweltverschmutzung durch eine sich in ausländischem Besitz befindliche, nahegelegene Chemiefabrik Häfen blockiert und Tanker am Einlaufen gehindert. Weiter südwärts in Qena besetzen Einwohner Zugstrecken und drohen damit, die Stromversorgung des Assuan-Dammes nach Norden zu unterbrechen. Von den unmittelbaren Staatsangestellten wie den Rekruten der Sicherheitskräfte, die vor zwei Wochen meuterten, bis hin zu Ausgeschlossenen wie den Beduinen von Dabaa an der Mittelmeerküste, die kürzlich eine Kernkraftanlage stürmten und einen in Bau befindlichen Reaktor in die Luft gehen ließen, um gegen die illegale Besitznahme ihre Landes zu demonstrieren, machen die Ägypter ihren Anspruch auf ihre Städte, ihre Lebensgrundlagen und ihre Zukunft geltend.
Die Revolution ist überall, und sie ist stark. Sie umfasst die gebildete Mittelschicht ebenso wie die Armen in Stadt und Land. Subalterne mögen strategische Bündnisse mit den unterschiedlichsten Kräften von politischen Islamisten bis zu ehemaligen Gefolgsleuten Mubaraks eingehen. Langfristig aber bedeutet das Unvermögen dieser Kräfte, von echtem Wandel überhaupt nur zu reden, geschweige denn ihn herbeizuführen, dass die rasche Mobilisierung von Straßenprotesten immer nur einen Augenblick weit weg ist.
Entgegen der landläufigen Auffassung ist Ägypten in seiner Geschichte und ganz gewiss lange vor Ausbruch der Aufstände gegen Mubarak immer wieder Ausgangspunkt von radikalem Widerstand gewesen. Man frage nur einmal die Einwohner der Stadt Kafr el-Dawwar, wo es 1984 einen Aufstand gab, über den kaum berichtet wurde. Oder die Bauern von Sarandi, die 2005 gegen bewaffnete Schlägertrupps und Bereitschaftspolizisten kämpften, die ihre Landparzellen gemäß einem von Mubarak verkündeten „liberalisierenden“ Landgesetzes beschlagnahmen wollten. Der Unterschied ist nun, dass diejenigen, die sich für einen Wandel einsetzen, den Rückenwind der Revolution hinter sich wissen. Angelegenheiten, die sonst als rein „lokal“ oder „begrenzt“ gelten, können zu einem nachhaltigen und kollektiven Angriff auf den Status Quo werden.
Dies ist die Revolution Ägyptens, aber sie überschneidet sich mit den Graswurzelkämpfen von Athen bis Madrid, von Sanaa bis Santiago. Es ist die Revolution, die die bestehenden Eliten am meisten fürchten. Der ägyptische Revolutionär Alaa Abd El Fattah wurde einmal gefragt, ob es ihm lieber wäre, wenn die Revolution zu einem britischen (parlamentarischen) oder amerikanischen (präsidialen) System der liberalen Demokratie führen würde. „Weder noch“, lautete seine Antwort. „Wir wollen etwas Besseres.“
Sind die Präsidentschaftswahlen dann überhaupt von Bedeutung? Absolut, denn der Sieger dieser Wahlen wird maßgeblich daran mitwirken, den Raum, in dem diese weit größeren Kämpfe stattfinden, entweder auszuweiten oder zu beschränken.