Seit Beginn der europäischen Wirtschaftskrise steigen in den betroffenen Ländern die Selbstmordraten. Häufig wird der Freitod öffentlich inszeniert, um auf die schlechte Lage aufmerksam zu machen. Experten sehen die harte Sparpolitik als Ursache für die Verzweiflung vieler Menschen.
Hamburg - Seine letzten Worte waren eindeutig: "Ich habe Schulden, ich halte das nicht mehr aus", rief der 77-jährige Grieche Augenzeugen zufolge, bevor er sich Anfang April vor dem Athener Parlament erschoss. In seinem Mantel wurde ein handschriftlicher Abschiedsbrief gefunden, in dem er die Politik und die Wirtschaftskrise für seine verzweifelte Lage verantwortlich macht. Er wünschte sich "lieber ein anständiges Ende, als im Müll nach Essen zu wühlen".
Der Mann gehörte nicht zur sozialen Unterschicht der Gesellschaft. Er war pensionierter Apotheker. Sein Schicksal steht stellvertretend für viele Menschen in den europäischen Krisenstaaten, denen die wirtschaftliche Misere und die Sparpolitik den Lebensmut geraubt hat.
Seit Beginn der Krise im Jahr 2007 sind die Selbstmordraten in Ländern wie Griechenland oder Italien dramatisch gestiegen. Die genauen Zahlen sind schwer zu erfassen, weil die offiziellen Statistiken oft hinterherhinken und viele Selbstmorde aus Rücksicht auf die Angehörigen nicht als solche deklariert werden. Auch die Kirchen wollen das Thema meist lieber geheim halten.
Trotzdem gibt es Anhaltspunkte. In Griechenland soll die Zahl der Selbstmorde laut einem Bericht der Nachrichtenagentur Reuters in den vergangenen beiden Jahren um 40 Prozent gestiegen sein. Die Zeitung Ta Nea berichtete, 2011 seien offiziell 450 Fälle gezählt worden.
Italiens Steuerzahlerbund spricht von einem "sozialen Massaker"
Auch in Italien deuten die Daten auf einen sprunghaften Anstieg hin. Laut "New York Times" ist die Zahl der wirtschaftlich motivierten Selbstmorde pro Jahr zwischen 2005 und 2010 um 52 Prozent auf 187 gestiegen. Dabei ging die wirkliche Krise für das Land erst 2011 los. Seitdem rückt das Thema auch immer mehr in den Blick der Öffentlichkeit.
Die Wirtschaftskrise und die Sparpolitik der Regierung führen in Italien zu mehr Selbstmorden. Der Steuerzahlerbund Federcontribuenti beantragte am Freitag bei der Staatsanwaltschaft in Rom, mindestens 18 Fälle von Selbsttötung seit Jahresanfang zu untersuchen. Der Vorsitzende der Vereinigung, Carmelo Finocchiaro, warf der Regierung indirekt vor, ihre Spar- und Steuerpolitik sei für einen Teil der Selbsttötungen verantwortlich.
In Genua seien seit Jahresbeginn fünf Prozent mehr Selbstmorde im Vergleich zum Vorjahr gezählt worden. Der Steuerzahlerbund wolle geklärt wissen, wer für dieses "soziale Massaker" verantwortlich sei, berichtete die Nachrichtenagentur Ansa.
Die "New York Times" berichtet von mehreren Fällen, in denen sich italienische Unternehmer das Leben genommen haben, weil sie ihre Schulden nicht mehr zahlen konnten oder die Bank ihnen den Geldhahn zugedreht hat. Allein in der Region Venetien, die besonders stark von der Krise betroffen ist, wurden laut der US-Zeitung in den vergangenen drei Jahren mehr als 30 Selbsttötungen von Kleinunternehmern gezählt. In Bologna erregte kürzlich ein Handwerker die Gemüter, der sich vor dem Finanzamt der Stadt angezündet hatte - er überlebte schwer verletzt.
Experten sehen die Ursache der steigenden Selbstmordraten vor allem in der harten Sparpolitik, die die überschuldeten Länder eingeschlagen haben. "Die Finanzkrise gefährdet das Leben der normalen Menschen, aber viel gefährlicher sind die radikalen Kürzungen bei der sozialen Sicherung", zitiert die "New York Times" den Soziologen David Stuckler, der seit Jahren die sozialen Auswirkungen von Wirtschaftskrisen untersucht. Eine radikale Sparpolitik könne eine Krise in eine Epidemie verwandeln, so sein Fazit.