Buch der Woche: Jörg Baberowski: "Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt" Von Martin Ebel
Bei Stalin konnte man sich auf nichts verlassen. Es regierte das Morden nach Quote. Jörg Baberowski beschreibt in seinem Buch die Brutalität des Regimes - und bezeichnet sie letztendlich als Schwäche.
Es gibt Ereignisse der jüngeren Geschichte, die lassen einem keine Ruhe,
auch wenn sie hinreichend erforscht und literarisch vielfach zur
Anschauung gebracht worden sind. Das Dritte Reich gehört dazu. Und die
Tatsache, dass das große russische Reich von einer kleinen Gruppe
fanatischer Revolutionäre gekapert und auf Jahrzehnte in ein riesiges
Straflager verwandelt werden konnte. Nie lagen hehre Ziele und höllische
Realität weiter auseinander als im Sowjetkommunismus. Wohl keine
Familie, die in jener Zeit nicht ein Mitglied verloren hatte, erfroren
im Gulag, verhungert in der Deportation, erschossen in einem Keller der
Geheimpolizei. Dass das neue Russland sich mit dem Aufbau einer
Zivilgesellschaft so schwertut, hat auch mit dieser Vorgeschichte zu
tun.
Auch manchem Historiker lässt der Stalinismus keine Ruhe.
Jörg Baberowski, Professor für die Geschichte Osteuropas an der
Humboldt-Universität Berlin und einer der besten Kenner der Materie, hat
2003 unter dem Titel "Der rote Terror" eine vorzügliche Darstellung des
stalinistischen Herrschaftssystems vorgelegt. Ihm selbst gefällt sie
allerdings heute nicht mehr. Als er den Auftrag bekam, sein Buch für
eine Übersetzung ins Englisch zu überarbeiten, nahm er es sich wieder
vor und machte eine irritierende Beobachtung:
"Je
mehr ich las, desto größer war die Enttäuschung. Es war eine Qual, das
eigene Buch zu lesen, dessen Sätze und Diktion mir nicht mehr gefielen.
Vieles von dem, was einmal für richtig gehalten werden konnte, erschien
mir sieben Jahre später als Unfug. Schon nach wenigen Wochen arbeitete
ich nicht mehr am alten, sondern am neuen Buch."
Auch wenn
man das strenge Urteil nicht teilt: Die Begründung für die Revision
leuchtet ein. 2003 faszinierte den Autor die These des polnischen
Soziologen Zygmunt Bauman, der Stalinismus gründe letztlich im
Ordnungswahn, in einer "Angst vor Ambivalenzen", er habe die verwirrende
Vielfalt der Realität gewaltsam auf einen, seinen Nenner bringen
wollen.
Eine schöne These, aber doch nur eine Behauptung, meint
Jörg Baberowski heute. Er hat in den letzten Jahren sehr viel über den
Stalinismus gelesen; vieles ist auch erst seit Kurzem für die Forschung
zugänglich: die stenografierten Protokolle der ZK-Sitzungen, der
Schriftverkehr zwischen der Zentrale und den Provinzen, die persönlichen
Papiere der wichtigsten Führer von Staat und Partei, die Telegramme mit
den Direktiven Stalins.
Vor allem aufschlussreich waren die
Akten des NKWD, jenes Geheimdienstes, der auch einmal GPU oder KGB hieß
und wertvolle Informationen über Armut und Widerstand enthält. Die
Institution mit den furchterregenden Kürzeln wusste am besten, was im
Land los war. Was diese Dokumente, was auch die persönlichen Zeugnisse
vieler Sowjetbürger zu sagen haben, spricht für ein anderes
Erklärungsmuster als Baumanns These von der Sehnsucht nach
Einheitlichkeit.
Im Zentrum des neuen Buches steht die Gewalt,
stehen die, die sie ausübten: Stalin und seine Komplizen und Handlanger.
Der Kommunismus war nicht die Begründung ihrer Untaten, sondern
lediglich deren Rechtfertigung. Nimmt man die idealistische Spitze weg,
die viele Interpreten den Revolutionären noch zugestehen wollen, so
bleibt der nackte Terror.
Dieser Ansatz wäre möglicherweise vor
einiger Zeit unter ein politisches Verdikt gefallen: Man hätte dem Autor
Personalisierung und Dämonisierung vorgeworfen und nach Strukturen und
ökonomischen Zusammenhängen gefragt, ähnlich wie in der
Geschichtsschreibung des "Dritten Reichs". Diese dogmatische Verengung
ist vorüber, man kann sich unvoreingenommen an die Deutung der Fakten -
aller Fakten - machen. Das ist auch dem neuen Stalinismus-Buch von Jörg
Baberowski zugute gekommen, das schon jetzt, kurz nach Erscheinen, als
Standardwerk gelten kann. Eine derart umfassende und durchdringende
Darstellung der Herrschaft Stalins ist derzeit auf dem Buchmarkt nicht
zu haben.
Russland war, schon bevor die Bolschewiki sich an die
Macht putschten, ein Gewaltraum. Im Dorf regierte die Knute, im Militär
prügelten Offiziere ihre Soldaten. Im Ersten Weltkrieg brachen alle
Dämme. 1917 tobten die zurückflutenden Bauernsoldaten ihren doppelten
Frust - über die Erniedrigungen zu Hause, über die katastrophalen
Verhältnisse an der Front - an den Städtern aus. Maxim Gorki, den
Baberowski zitiert, wie er sich oft der Anschaulichkeit der
Schriftsteller bedient, reagierte entsetzt über die Exzesse und
entlarvte die oft bekundete Liebe der Intelligenzia zum Volk als naiv
und ignorant:
"Ich sage offen, dass
Leute, die so viel von ihrer Liebe zum Volk reden, immer Argwohn und
Misstrauen in mir wecken. Ich frage mich und ich frage auch sie: Lieben
sie wirklich jene Bauern, die sich mit Schnaps betrinken, bis sie zu
toben beginnen und ihre schwangeren Frauen in den Bauch treten? Jene
Bauern, die viele Tausend Zentner Getreide zur Herstellung von
Selbstgebranntem verbrauchen und die verhungern lassen, von denen sie
geliebt werden? Jene Bauern, die einander bei lebendigem Leib begraben,
die auf offener Straße grausame Lynchjustiz üben und es genießen, wie
ein Mensch tot geprügelt oder im Fluss ertränkt wird?"
Lenin
erkannte, dass das Gewaltmonopol zerfallen war und die Macht nun auf
der Straße lag. Er ergriff sie und setzte sie nach einem unvorstellbar
grausamen Bürgerkrieg gegen alle Widersacher und Erwartungen durch.
Baberowski hält Lenin für einen "bösartigen Schreibtischtäter".
Überhaupt hatte schon die erste Generation der Revolutionäre kein
Problem mit hohen Opferzahlen. Grigori Sinowjew, Parteichef von
Petrograd, erklärte Ende September 1918:
"Um
unsere Feinde zu überwinden, brauchen wir unseren eigenen
sozialistischen Militarismus. Von der einhundert Millionen zählenden
Bevölkerung Sowjetrusslands müssen wir 90 Millionen mit uns nehmen. Was
den Rest angeht, so haben wir ihm nichts zu sagen. Er muss vernichtet
werden."
Sinowjew wurde dann später eines der Millionen
Opfer Stalins. Wenn Lenin und seine Gefährten rücksichtslos mit ihren
Gegnern verfuhren und summarische Todeslisten abzeichneten, so war für
sie Gewalt bloß ein Mittel, um zu siegen.
Stalin dagegen, der ab
Mitte der 20er-Jahre die sowjetische Politik dominierte, war ein
lustvoller Gewalttäter. Und er zog seinesgleichen nach: primitive
Provinzler mit vielfach eigener Gewaltbiografie und kriminellem
Hintergrund, die einen proletarischen Männlichkeitskult pflegten und
Konflikte mit Beleidigungen und Faustschlägen austrugen.
Stalin
verstrickte sie in seine Verbrechen und schickte sie dann in die
Provinz, damit sie dort seine Methoden umsetzten. Der Terror war die
Feuertaufe des stalinistischen Funktionärs. Ein dichtes Netz an
Kontrollinstanzen sorgte dafür, dass sie immer in seiner Schuld standen
und jederzeit gestürzt werden konnten. Stalins Beziehung zu seinen
Untergebenen ist den Verhältnissen in einem Mafia-Clan vergleichbar, mit
Ausnahme vielleicht der Verlässlichkeit, die dort immerhin gilt, und
dem berechenbaren Austausch von Loyalität.
Bei Stalin konnte man sich auf nichts verlassen.
Wer
ihm nahe stand, wer seine Hände für ihn mit Blut befleckt hatte, stand
genauso schnell vor dem Erschießungspeloton, wie irgendein armer Bauer
aus Sibirien. Der Terror war unberechenbar und er war grenzenlos.
Stalins
berüchtigter Befehl 00447 führte 1937 das Töten nach Quote ein, bei dem
das Individuum erst in einer Kategorie verschwindet, bevor es auch
physisch verschwindet. "Besser zuviel, als zuwenig" fügte der Diktator
als Erläuterung hinzu, weshalb die Planziffern meist übertroffen wurden.
Baberowskis
Material lässt keinen Zweifel daran, dass die monströse
Vernichtungspolitik von Stalin selbst und unmittelbar ausging und in
allen Schritten von ihm begleitet wurde. "Schlagen, schlagen", schrieb
er an den Rand von Verhörprotokollen. Er ließ einstige Weggefährten
zwischen Folterkeller und Exekutionspeloton in sein Arbeitszimmer
bringen und weidete sich an ihren Schmerzen und Demütigungen. Selbst
seinen treuen Sekretär packte er gern an den Haaren und knallte seinen
Kopf auf die Tischplatte.
"Wir müssen uns Stalin als einen glücklichen Menschen vorstellen, der sich an den Seelenqualen seiner Opfer erfreute."
So
Baberowski in einer grausigen Adaption des berühmten Satzes von Albert
Camus. Auf Beschwerden, Klagen, Bittrufe, die ihn von Bürgern oder auch
Verantwortlichen aus den Provinzen erreichten - denn er war sehr wohl
genau informiert über alles Schreckliche, was geschah - reagierte er
zynisch oder sogar mit der Bestrafung des Beschwerdeführers.
Die
Sinnlosigkeit, mit der die Mordmaschine wütete, macht den Leser
sprachlos. Den Autor, gesteht er im Vorwort, hat die Gewalt bis in den
Schlaf verfolgt. Wozu die ständigen Kampagnen gegen Spione und
Saboteure, die Säuberungswellen, welche die Partei zerfraßen und sogar
den Geheimdienst, die Vernichtung fast der kompletten militärischen
Führung? Wozu die Kulakenkampagne, dieser Krieg gegen die Bauern, wie
Baberowski sie nennt, ein Krieg, der eine schreckliche Hungersnot
auslöste? Wozu die Umsiedlungen, Deportationen, die ethnischen
Säuberungen ganzer Völker? Baberowskis Erklärung hat im Wesentlichen
zwei Aspekte: Die Gewalt selbst als normales Mittel der Politik und der
Ausnahmezustand als ständig herbeigeführter Normalzustand.
Der
erste Aspekt: Gewalt war für Stalin selbstverständlich. Sie war ein Teil
seines Lebens und folglich ein so normales Mittel der Politik, dass es
keinerlei Rechtfertigung brauchte. Meist fiel ihm auch nichts anderes
ein. Ökonomische Probleme etwa deutete er stets als Machtfragen; kam ein
Fabrikbau nicht schnell genug voran, musste das an "Saboteuren" liegen.
So hatte er in einem Prozess gegen Ingenieure und Techniker aus der
Region Schachty im Donbass schon vor dem Urteil dekretiert, was das
Gericht eigentlich erst herausfinden sollte. Im April 1928 erklärte
Stalin vor dem Zentralkomitee:
"Die
Fakten sagen, dass der Schachty-Fall eine ökonomische Konterrevolution
ist, die von einem Teil der bürgerlichen Spezialisten arrangiert worden
ist, die früher die Kohleindustrie geleitet hatten. Die Fakten sagen
weiter, dass diese Spezialisten, die sich in einer geheimen Gruppe
organisiert haben, für die Schädlingstätigkeit Geld von den früheren
Herren, die jetzt in Europa in der Emigration sitzen, und von
konterrevolutionären antisowjetischen kapitalistischen Organisationen im
Westen erhalten haben. Die Fakten sagen schließlich, dass diese Gruppe
bürgerlicher Spezialisten auf Anweisung kapitalistischer Organisationen
im Westen auf unsere Industrie einwirkte und sie zerrüttete."
Solche
Verbrechen konnten naturgemäß nur mit dem Tode bestraft werden. Und
nachdem man die entsprechenden Geständnisse aus den Angeklagten
herausgefoltert hatte, wurden sie erschossen. Das paranoide System hatte
sich selbst bestätigt - und würde es in unzähligen Schauprozessen, die
diesem ersten Muster folgten, immer wieder tun. In den Provinzen wurde
dieses Verhalten von gleichermaßen pathologischen Mördern wie Lawrenti
Berija oder Mir Schafar Bagirow getreulich imitiert.
"Bagirow
ließ die Bewohner ganzer Bauerndörfer ausrotten, 20 Minister seiner
Regierung und alle Parteisekretäre der Republik erschießen und ganze
Sippen ermorden, die er dem Diktator als Feinde präsentierte. In Baku
imitierte der kleine Despot die Methoden des großen Despoten. Er ließ
sich die Delinquenten in sein Arbeitszimmer bringen, wo sie in seiner
Gegenwart gefoltert wurden. Berija erschoss den Parteichef Armeniens,
Agassi Chandschjan, mit seinem Revolver, vergiftete den Ersten Sekretär
der abchasischen Parteiorganisation, Nestor Lakoba, und ließ dessen
Familie ausrotten. Berija und Bagirow waren die einzigen
Provinzpotentaten, die das Jahr 1938 überlebten und nach dem Ende des
Massenterrors in die Parteiführung aufrückten."
Erst
Chrustschow setzte ihrem Treiben ein Ende. Solche Beispiele zeigen, dass
Baberowski sich keineswegs, wie viele seiner Vorgänger, auf die
Vorgänge in den Zentren des kommunistischen Imperiums beschränkt. Dass
er den Blick über Moskau und Leningrad hinaus auf Randgebiete wie
Georgien oder Aserbaidschan lenkt, gehört zu den großen Leistungen des
Buches. Viele ehemalige Sowjetrepubliken, die heute unabhängige Staaten
sind, haben an ihrem eigenen stalinistischen Erbe schwer zu tragen.
Den
Ausnahmezustand aber - dies der zweite wichtige Aspekt für die
Erklärung des Stalinismus -, den Ausnahmezustand, in dem er sich
austoben konnte, führte der Diktator stets aufs Neue herbei.
Schon
die Machtergreifung der Bolschewiki hatte nur zu einem Zeitpunkt
erfolgen können, als keine Institution, keine Regel, kein
zivilisatorischer Rahmen mehr funktionierte. Wirklich beherrschen
konnten sie das Riesenreich aber nicht. Das ist vielleicht die
überraschende These des Buches: Die Bolschewiki agierten so brutal, weil
sie schwach waren. Sie konnten sich vor allem in den Dörfern nie auf
Dauer etablieren. Und so mussten sie ihre Direktiven durch punktuellen
und willkürlichen Terror durchsetzen. Terror, der etwa die Bauern traf,
die sich gegen die Kollektivierung wehrten. Wie eine Kompanie der Roten
Armee am 19. Februar 1930 das Dorf Tschai-Abassy in Aserbaidschan
"bestrafte", schlug sich sogar im Bericht einer staatlichen
Untersuchungskommission nieder. Dort heißt es:
"Ungefähr
30 Personen, das heißt alle Bewohner des Dorfes, wurden von einer
Kompanie des vierten Schützenregiments auf viehische Weise erschossen.
Die Häuser und andere Gebäude wurden niedergebrannt, das Eigentum
zerstört. Unter den Erschossenen befanden sich 14 Kinder, unter ihnen
neun im Alter von zwei bis sechs Jahren. Darüber hinaus wurden vier
Säuglinge, die an die Leichen der Mütter geklammert waren, liegen
gelassen, sie starben an Hunger und Kälte."
Stalins
Henker führten sich schlimmer auf, als eine Besatzungsmacht. Wirkliche
Macht, nämlich Macht, die sich nicht ständig beweisen muss, beruht aber
auf Zustimmung; die, das wussten die Bolschewiki, würden sie nie
bekommen.
Das Bewusstsein, sich in einer feindlichen Umwelt
behaupten zu müssen, prägte auch den Umgang der Parteiführer
untereinander. Schon Lenin hatte das, was er "Fraktionsbildung" nannte,
verboten; wären sie uneins, so wären die Bolschewisten bald verloren.
Unter
Stalin hieß das: Wer dem großen Führer widerspricht, der in seiner
unendlichen Weisheit die Parteilinie verkörpert, ist ein Feind, eine
Gefahr, ein Verräter und muss vernichtet werden. Der nächste Schritt in
dieser Eskalation der Gewalt, die in die Paranoia umkippte, waren nicht
die realen, sondern die denkbaren Feinde. Auch die mussten entlarvt und
vernichtet werden. Und wenn man keine fand, dann erschuf man sich eben
welche - unter tätiger Mithilfe der Geheimpolizei, die selbst unter
Druck stand: Wer nicht genügend "Spione" entlarvte, machte seine Arbeit
nicht richtig und war selbst verdächtig. Für all das hat Jörg Baberowski
eine Fülle an schrecklichen Beispielen. So wurden 1935 112 Angestellte
der Kremlverwaltung verhaftet, nicht nur Wachleute und Sekretäre,
sondern auch Putzfrauen und Bibliothekare, denen die Geheimpolizei
vorwarf, sie hätten Stalin und die Mitglieder des Politbüros töten
wollen. Die Verhafteten mussten dann gestehen, was die Geheimpolizei
sich für sie ausgedacht hatten und letztlich dazu diente, Lew Kamenew zu
belasten, einen der verbliebenen Weggefährten Lenins.
Baberowskis
Buch, klar und nüchtern geschrieben, lässt den Leser nicht los und
deprimiert ihn zugleich zutiefst: Durch die Monotonie der Opferzahlen,
die nüchtern herunterdekliniert werden und immer sofort in die Tausende
gehen. Aber auch durch die dokumentierten Einzelfälle, jeder ein Grauen
für sich. Verstehen kann man den Terror und die Willkürherrschaft, die
die Sowjetunion über Jahrzehnte prägten und die Persönlichkeit auch der
Überlebenden zerstörten, auch nach 600 Seiten und überaus überzeugenden
Erklärungen nicht. Nicht wirklich: Das, was man da begreifen muss, hält
man im Kopf nicht aus. Aber das Grauen lässt sich nicht nur
dokumentieren, es lässt sich auch veranschaulichen. Etwa mit der
Geschichte, mit der Jörg Baberowski sein Buch eröffnet und mit der diese
Besprechung schließen soll. Sie stammt von Alexander Solschenizyn, aus
dem ersten Band seines "Archipel Gulag".
"Eine
Bezirksparteikonferenz im Moskauer Gebiet. Den Vorsitz führt der neue
Bezirkssekretär anstelle des sitzenden früheren. Am Ende wird ein
Schreiben an Stalin angenommen, Treuebekenntnisse und so weiter.
Selbstredend stehen alle auf. Im kleinen Saal braust stürmischer, in
Ovationen übergehender Applaus auf. Drei Minuten, vier Minuten, fünf
Minuten - noch immer ist er stürmisch und geht noch immer in Ovationen
über. Doch die Hände schmerzen bereits. Die erhobenen Arme erlahmen. Es
wird das Ganze unerträglich dumm selbst für Leute, die Stalin aufrichtig
verehren. Aber: Wer wagt es als Erster? Aufhören könnte der erste
Bezirkssekretär. Doch er ist ein Neuling, er steht hier anstelle des
Sitzenden, er hat selbst Angst! Denn im Saal stehen und klatschen auch
NKWD-Leute, die passen schon auf, wer als Erster aufgibt! Im kleinen,
unbedeutenden Saal wird geklatscht. Und Väterchen Stalin kann's gar
nicht hören. 6 Minuten, 7 Minuten! 8 Minuten! Der Direktor der
Papierfabrik, ein starker und unabhängiger Mann, steht im Präsidium,
begreift die Verlogenheit, die Ausweglosigkeit der Situation - und
applaudiert - neun Minuten, zehn! Er wirft sehnsüchtige Blicke auf den
Sekretär, aber der wagt es nicht. Und so setzt der Direktor in der
elften Minute eine geschäftige Miene auf und lässt sich in seinen Sessel
im Präsidium fallen. Und - o Wunder! - wo ist der allgemeine, ungestüme
und unbeschreibliche Enthusiasmus geblieben? Wie ein Mann hören sie
mitten in der Bewegung auf und plumpsen ebenfalls nieder. Sie sind
gerettet! Der Bann ist gebrochen. Allein, an solchen Taten werden
unabhängige Leute erkannt. Erkannt und festgenagelt: In selbiger Nacht
wird der Direktor verhaftet."
Buchinfos:
Jörg Baberowski: Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt.
C. H. Beck, München 2012, 606 Seiten, Preis: 29,95 Euro