Der Skandal im Skandal

Christian Wulff

In der Krise frißt die Demokratie ihre Träume. Aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit des Bürgers heraus sind jedoch wie im platonischen Höhlengleichnis nur indirekte Auswirkungen dieses ungeheuerlichen Vorgangs wahrnehmbar. So erscheint lediglich das Schmatzen und Rülpsen des Raubtierkapitalismus als unanständig, nicht jedoch seine (selbst-)mörderische Jagd nach unseren Grundrechten, welche sich außerhalb der genannten Hegemonieerzählung abspielt. Der Skandal am Skandal der bürgerlichen Politik ist dass ihr selbst nur der kleinste Teil davon als Skandal erscheint, und auch das lediglich in verzerrten Proportionen. So auch im Fall Wulff.

 

Da hat also tatsächlich der Präsident von Deutschland in einem beruflichen Telefonat wie im heimischen Wohnzimmer geredet. Jeder Arbeitnehmer kennt die Folgen und wird es vermeiden das eine mit dem anderen durcheinanderzubringen. Passiert soetwas zwischen einem Karrierepolitiker und einem Monopolkonzern, hat es eine größere Tragweite als zwischen einem Arbeitslosen und einer Leiharbeitsfirma. Aber wahrscheinlich bringen die meisten ALG-Betroffenen mehr Feingefühl mit um eine verhandlungsfähige Ausdrucksform zu finden bevor sie beruflich bedingt zur Kommunikationselektronik greifen - und wenn nicht, neues Spiel neues Glück. Der Skandal der bürgerlichen Berichterstattung ist eigentlich gar keiner, weil seine Voraussetzungen überall alltäglich sind. Wieso sollte ein Politiker der mit Konzernwillkür konfrontiert ist darauf anders reagieren als irgendwer sonst? Und wieso ist das ein Thema welches unverhofft zum ideellen Gesamtspektakel herrschender Politik wird?


Von einem Präsidenten kann nicht erwartet werden dass er mit einem Transparent "Enteignet Springer!" auf die Straße geht - soviel persönliche Autonomie wäre nicht mit der Unmündigkeit seines Amtes vereinbar. Was aber erwartet werden darf ist dass jemand erst dann aus seiner Privatsphäre heraustritt wenn er sich ganz abreagiert hat. Hält einer sich nicht dran, beschädigt das vielleicht seine Karriere, aber weiter nichts. Denn diese Erzählung spielt zwar innerhalb der Selbstentmündigung des bürgerlichen Gesellschaftsvertrages mit der Staatsmacht, doch außerhalb davon ist es egal wer Präsident ist, Hauptsache der staatliche Machtzirkus geht zeitnah zu Ende. Bis dahin ist jeder politische Skandal nur deswegen ein solcher weil er für den unmündigen Bürger Unfaßbares als Gleichnis in die Erzählung von der  Demokratie zu integrieren versucht. Doch was ist es, das seine skandalösen Schatten so erschlagend auf den letzten Anschein politischer Normalität wirft dass der dadurch als nicht mehr gegeben erscheint?


Es ist ebenjene für Manager, Politiker und Journalisten so charakteristische kapitalistische Gier welche die Verschiebungsleistung vollbringt, eine Auseinandersetzung darüber in welcher Situation etwas gesagt wurde zu einem Streit darüber zu machen was gesagt wurde. Gut möglich dass der betreffende Politiker noch sehr viel Ausdrucksstärkeres über den betreffenden Kapitalisten sagte bevor er ihn anrief. Gründe dafür gäbe es genug. Ist das Gebot der Trennung von Person und Funktion, von privat und öffentlich, als Spielregel des kapitalistischen Arbeitsmarktes denn keine im bürgerlichen Selbstverständnis vorhandene Idee mehr, oder ist die öffentliche Gier nach der Privatsphäre der anderen mittlerweile stärker als solche wirtschaftlichen Prinzipien? Wer außer Konzernwillkür keine anderen Anlässe hat sich von einer gewaltfreien Kommunikation abzuwenden...


Dass Skandale wie dieser auftreten liegt an ihren jeweiligen Akteueren, doch auf welche Weise sie sich erzählen können verrät auch etwas über die Verfaßtheit der Gesellschaft welcher sie sich erzählen. Da ist zum einen die Erwartung dass Springers heißem Blatt jetzt dasselbe bevorsteht wie seinem Londoner Doppelgänger. Davor noch kommt die Notwendigkeit die Banalität des Bösen zu erkennen die sich in der Skandalisierung des Alltäglichen ausdrückt:  Der Gesprächsinhalt sei das Skandalthema und nicht der Sprechort. Wenn aber, wie diese Skandalerzählung vermittelt, die kapitalistische Demokratie in ihrem Machtkampf gegen die Freiheit des einzelnen keine Unterscheidung von Sprechorten mehr wahrhaben will, was bedeutet das für eine autonome Analyse des staatlichen Machtzirkus?


Eine strukturgleiche Erzählung findet sich auch in der sogenannten Plagiatsdebatte - auch hier wurde im bürgerlichen Narrativ ausschließlich über Plagiate aus öffentlich zugänglichen Quellen gesprochen, auch hier blieb die Frage des Sprechorts des jeweils plagiierten Originals ausgeblendet. Wer außer von Suchmaschinen nirgendwo abgeschrieben hat...


Die Häufung von politischen Skandalen mit blindem Fleck im Zentrum ihrer jeweiligen Erzählung kann nur als Anhaltspunkt einer panoptischen Gesellschaft gewertet werden, in der ein Verfügungsanspruch über die Daten derjenigen die dabei nicht mitmachen wollen eine so zentrale Rolle spielt, dass sie der Inszenierung eines bis auf seine Subtexte belanglosen Skandals bedarf sobald ihre totalitäre Überwachungsmaschinerie an inhaltlicher Überlastung versagt.


Offenbar wurde hier wieder einmal genügend Sand ins Getriebe gestreut. Diese Metapher ist aber nur eine Seite der Medaille. Wenn das kleptokratische System das in einem derart erzeugten Skandaldiskurs behandelt wird so total ist wie der Versuch seiner Akteure sich nichts anmerken zu lassen vermuten läßt, gleichzeitig aber labil genug sich bis zur Absurdität in groteske Ersatzhandlungen verstricken zu lassen, dann bedeutet das auch dass einer vergleichsweise großen Zahl von Tätern eine eher kleine Zahl von Betroffenen gegenübersteht, und sich viele von den Daten einiger weniger nähren.


Ein derartig asymmetrisches Verhältnis erinnert an die vergiftete Limonade im amerikanischen Dschungelcamp, der seinerzeit Hunderte zum Opfer fielen weil einer mit allem abgeschlossen hatte. Damit hört die Analogie aber auch schon auf. Denn wer öffentlich Gift an Ahnungslose ausschenkt steht moralisch auf einer ganz anderen Stufe als jemand der sich gegen die verbrecherische Ausplünderung seiner Privatsphäre wehren muss - und dabei auch nicht von Gift Gebrauch macht sondern von psychologischer Notwehr zum Sprengen einer unerträglichen Situation. Genauso tödlich ist es allerdings trotzdem, aber mit Warnung.


Wenn eine hegemoniale Gruppe oder Kaste - Staatsbeamte, Politiker, etc. - sich gegen deren Willen derart existenziell von einzelnen abhängig macht, dass diese solange jene Gruppe existiert nicht mehr in Freiheit und Offenheit leben können, dann ist das ganz offensichtlich Massenselbstmord, eine andere Teleologie ist nicht plausibel. Wer sich zum willigen Vollstrecker des demokratischen Totalitarismus macht ist nicht mehr zu retten, und jedes kommende Kriegsverbrechertribunal muss bereits jetzt die einzig mögliche Schlußfolgerung daraus ziehen. Diese ebenso triviale wie skandalöse Wahrheit ist der einzige Grund für das ganze Spektakel.