Bericht über den Aktionstag am 22.Oktober 2011 in Erfurt. Selbstorganisation stärken und Austausch Flüchtlingskomitees fördern Break Isolation Camp 2012.
Am 22. Oktober 2011 versammelten wir uns in Erfurt, um das rassistische Ausgrenzungssystem der Isolationslager und der Residenzpflicht in die Öffentlichkeit zu tragen. Ziel war es nicht, hier Forderungen an bestimmte Vertreter des Staates oder der Institutionen zu stellen. Denn eines haben wir in den vielen Jahren der Flucht, Migration, Vertreibung und des Lagerlebens hier in Deutschland gelernt: Unsere Freiheit wird uns nicht von jemandem gegeben. Wir müssen sie selbst erkämpfen.
So eröffnete auch Milud Lahmar Cheriff, Mitglied von The VOICE Refugee Forum aus dem Isolationslager Zella-Mehlis seinen Redebeitrag an die Erfurter Bevölkerung und an die Passanten: „Wir sind heute hier, weil etwas nicht in Ordnung ist. Wir sind heute hier, weil wir euch auf der Straße und diese Gesellschaft über uns informieren wollen. Wir wollen, dass ihr uns zuhört. Darum wäre ich über eure Aufmerksamkeit sehr dankbar.“ Er betonte, dass es uns nicht darum ginge, Politiker und Regierungen zu erreichen. Vielmehr gehe es darum, den Menschen die Lage zu schildern, damit sie selbst urteilen und dementsprechend handeln können. Denn die Menschen haben es in der Hand die Gesellschaft und die Regierung zu verändern. Er zählte die staatlichen Mittel der Isolation und Absonderung von der Gesellschaft auf und richtete die Frage an die Menschen auf der Straße: „Ihr kauft mit Bargeld - wir mit Gutscheinen, ihr dürft Euch im Land frei bewegen - wir nicht; ihr lebt in Wohnungen - wir in isolierten Lagern. Warum ist dies so? Akzeptiert es oder nicht, der deutsche Staat ist rassistisch. Sie tun ihre Arbeit und sie sind sehr hochqualifiziert in der Zerstörung von Menschenleben. Der deutsche Staat ist rassistisch und die Gesetze sind rassistisch. Rassismus ist die Überschrift hier.”, führte Milud L. Cheriff weiter aus. Rex Osa von THE VOICE Refugee Forum aus Baden-Württemberg ergänzte:
„Immer wieder bei unseren öffentlichen Aktionen und Protesten sagen uns Deutsche, dass sie über die Bedingungen, denen wir als Flüchtlinge unterworfen sind, nicht informiert seien – ebensowenig wie über die Sondergesetze gegen uns oder die Steuergelder für die Unterhaltung eines schrecklichen das Lagersystem. Durch die Isolation und Ausgrenzung der Flüchtlinge werden nicht nur die Grundrechte der Flüchtlinge verletzt, sondern auch die der deutschen Staatsbürger. Sie alle haben ein Recht auf die Wahrheit und ein Recht darauf, zu erfahren, was in ihrem Land passiert.“ Break Isolation Kampagne ziele darauf ab, sowohl die Flüchtlinge als auch die Bürger dieses Landes näher zusammenzubringen, damit solidarische Strukturen für die Überwindung unserer gemeinsamen Probleme und eine gemeinsame Perspektive entstehen.
Die Grundlagen der Kontinuität
Unsere Zusammenkunft war zugleich ein Zeichen der Stärke durch Solidarität. Die Kundgebung und Demonstration in Erfurt bildeten nach dem KARAWANE-Festival 2010 „Vereint gegen koloniales Unrecht, in Erinnerung an die Toten der Festung Europa“ den Höhepunkt der Selbstorganisation der Flüchtlingsgemeinschaften Thüringens und der Kampagne Break Isolation. Osaren Igbinoba von THE VOICE Refugee Forum:
„Wir wissen, was es bedeutet hier zu sein. Wir wissen, was es bedeutet im Kampf zu sein. Eure Anwesenheit ist das Wichtigste. Eure Anwesenheit macht heute Geschichte.” The VOICE Refugee Forum ist die älteste Flüchtlingsselbstorganisation in Deutschland. Aktive Flüchtlinge von THE VOICE haben viele Kämpfe in Thüringen und in anderen Teilen Deutschland gegen die Deportationen, die Lager und die Residenzpflicht geführt und dabei die Bildung vieler Initiativen und Flüchtlingsgemeinschaften durch ihre vorbildliche und aktive Rolle in den Kämpfen der Flüchtlinge angestoßen. Einige Schritte aus den letzten Jahren, die die Selbstorganisierung befördert haben, sollen hier erwähnt werden:
• Der offensiv geführte Kampf für die Schließung des Lagers in Katzhütte, dessen Funke weitere Kämpfe in anderen Lagern Thüringens wie in Gehlberg, Apolda und Gerstungen und in anderen Bundesländern (Sachsen-Anhalt, Nordrheinwestfalen) entfachte.
• Die Konferenz gegen koloniales Unrecht in Jena in September 2009 [1], bei der die Organisierung des Festivals in Jena und die Ausrichtung eines Tribunals gegen die Bundesrepublik Deutschland beschlossen wurden. Weiterhin wurde bei dieser Konferenz von den anwesenden Flüchtlingsgemeinschaften aus Thüringen, Sachsen-Anhalt, Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg der Aufbau von Flüchtlingsgemeinschaften als wichtigstes Ziel deklariert [2].
Anknüpfend an die Diskussionen und die Erfahrungen des Flüchtlingskampfes entstand der Text gegen koloniales Unrecht [3].
• Das KARAWANE-Festival 2010 in Jena „Vereint gegen koloniales Unrecht, in Erinnerung an die Toten der Festung Europa“ demonstrierte einzigartig die Stärke der Selbstorganisationen, die kulturelle Vielfalt und den Willen in Gedenken an die toten Opfer des kolonialen Unrechts das Leben und die Würde der Lebenden zu verteidigen. Das Festival war vor allem auch durch die aktive Einmischung vieler junger Menschen aus Jena möglich gemacht worden, die anschließend das Break Isolation Bündnis mit anderen Einzelpersonen und Gruppen gründeten. Das Festival inspirierte ebenfalls andere Flüchtlinge außerhalb Thüringens, sich zu organisieren und mit anderen zu vernetzen wie in Baden-Württemberg, Niedersachsen und Nordrheinwestfalen.
• Die kontinuierliche Durchführung von Treffen in den Lagern und in zentralen Städten von Thüringen in 2011 durch The VOICE Refugee Forum und das Break Isolation Bündnis. Diese kontinuierliche Arbeit konnte nur durch eine klare Überzeugung und Entschlossenheit aller beteiligten Aktivistinnen und Aktivisten von THE VOICE Refugee Forum und des Break Isolation Bündnisses geleistet werden. Denn jede Zusammenkunft und jedes Treffen bedeutet die Überwindung der Residenzpflicht durch zivilen Ungehorsam und der Hingabe aller, die nicht nur ihre Zeit für die Organisierung, der Vorbereitung der Treffen und der Dokumentation gewidmet haben, sondern auch finanziell die Grundlage für die Reisen der Flüchtlingsfreunde gelegt haben.
Solidarität und Zusammenhalt als Basis der Bewegung
Die Erfurter Aktion war eine Demonstration der Stärke und Solidarität aller Aktivistinnen und Aktivisten aus Thüringen und eine klare Formulierung der Ziele der Flüchtlingsgemeinschaften: „Schließung aller Flüchtlingslager“. Die Erfurter Aktion machte deutlich, dass die Flüchtlinge aus Thüringen, THE VOICE Refugee Forum und das Break Isolation Bündnis nicht alleine stehen. Neben den Flüchtlingsgemeinschaften aus Baden-Württemberg, Bayern, Niedersachsen, Sachsen-Anhalt und Brandenburg waren Vertreterinnen und Vertreter der KARAWANE-Gruppen aus Berlin, Bremen, Hamburg, Wuppertal, der VOICE-Gruppen aus Berlin und Stuttgart, sowie vieler anderen Gruppen aus dem antifaschistischen und kapitalismuskritischen Spektrum aus Thüringen sowie Zusammenschlüsse von Künstlerinnen und Künstler aus Berlin und Jena anwesend. Ein Flüchtling aus Bramsche ergriff kurz nach seiner Ankunft das Mikrofon und begrüßte im Namen seiner Freundinnen und Freunde aus Bramsche [4] die anwesenden: „Ich bringe euch die solidarischen Grüße aus Bramsche!“.
Kein Kompromiss mit Lager
Eine Rednerin der KARAWANE für die Rechte der Flüchtlinge und MigrantInnen aus Wuppertal machte deutlich, dass es keine Kompromisse mit Lagern geben kann: „Doch wir leben auch in einem Zeit, in der Opfer an ihre Kraft glauben, und die Regierungen und die Diktatoren kippen können. Sie glauben an ihre Kraft und gehen auf die Straße, so wie wir heute am Anger, in Erfurt, in der Landeshauptstadt Thüringen an unsere Kraft glauben und sagen: Wir lassen uns nicht mehr in diesem Lagersystem aufhalten!. Unsere Kinder haben das Recht auf Leben. Das Recht auf Leben ist unser Recht. Uns wenn ihr es anpackt, werdet ihr es mit unserem Widerstand zu tun haben.... Es lebe die Solidarität von uns allen. Und lasst uns verdammt nochmal diese Lager schließen. Lasst uns dafür kämpfen, dass alle Menschen ein würdiges Leben führen können, dass unsere Kinder nicht mitkriegen, dass in diesem Land Gefängnisse da sind, die Menschen und Kinder in sich beherbergen. Lass uns dafür kämpfen, für die Freiheit auch in diesem Land.“
Deutschland selbst verursacht Flucht und Vertreibung
Ein afghanischer Flüchtlinge sprach darüber, inwieweit Deutschland selbst schuld daran ist, dass Menschen fliehen müssen. Er verwies auf die hohen Waffenexporte Deutschlands hin und erwähnte die 80.000 in der Waffenindustrie beschäftigten Arbeiterinnen und Arbeiter, die ihr Lebensunterhalt durch die Waffenverkäufe sichern. Durch das Big Business mit Waffen- und Rüstungsproduktion müssen immer Kriege und bewaffnete Konflikte geschaffen werden und diese finden dann meist in unseren Ländern statt. Auf der anderen Seite hört man tagtäglich bei den Behörden und in den Lagern, dass man zurückgehen solle, wenn es einem hier nicht gefällt. „Doch wer ist verantwortlich für diese Kriege?“ fragte er zuletzt.
Stärkung der Selbstorganisation
Der Aktionstag in Erfurt inspirierte und stärkte alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus dem gesamten Bundesgebiet. THE VOICE Refugee Forum rief das Jahr 2012 zum „Jahr der Schließung der Lager“ aus. In Thüringen soll es im kommenden August einen größeren Aktions-, Bildungs- und Diskussionscamp gegen Flüchtlingslager geben. Es soll ein Ort sein, in dem die Solidarität durch Erfahrungsaustausch und gemeinsame Aktionen gestärkt wird. Das Camp ist ein Zwischenschritt auf dem Weg zum Tribunal gegen die Bundesrepublik Deutschland, das im Sommer 2013 in Berlin sein wird.
Was ist bis dahin zu tun? Unsere Strategie sollte die weitere Stärkung der Flüchtlingsgemeinschaften und –komitees und ihre Vernetzung untereinander sein. Was bedeutet dies konkret? Es bedeutet, dass Aktivistinnen und Aktivisten aus den Lagern regelmäßig andere Lager besuchen. Sie analysieren gemeinsam die Situation und berichten gleichzeitig über ihre eigenen Kämpfe und laden die Schwestern und Brüder aus diesen Heimen zu Treffen und Aktionen ein. Unsere Schritte sollten sich daran messen lassen, inwieweit weitere Flüchtlinge sich in der Bewegung involvieren und wie wir uns weiterhin mit unseren Fähigkeiten und Erfahrungen ergänzen und stärken können. Welche Schritte sind angemessen, um die Selbstorganisierung der Flüchtlinge in anderen Bundesländern, z.B. in Baden-Württemberg und in Niedersachsen und den Aufbau von Lagerkomitees zu erleichtern? Wie informieren wir regelmäßig unsere Schwestern und Brüdern in den Lagern und wie häufig können wir lokale oder regionale Treffen organisieren, damit wir uns im Prozess des Kampfes gegen Abschiebungen, gegen das Lagersystem und in der Verteidigung unserer Freundinnen und Freunde noch näher kommen können?
Es ist vielleicht hinzuzufügen, dass die Selbstorganisierung ohne den gleichzeitigen Kampf gegen die konkrete Form der Ausgrenzung, Repression oder Abschiebung nicht voranschreiten wird. Anders: Ohne den tagtäglichen, kompromisslosen und konkreten Kampf gegen die Behörden und Lagerverwaltung wird es keine Selbstorganisierung geben und ohne den ständigen Austausch untereinander wird der geführte Kampf nicht zu einer weiteren kontinuierlichen Säule unseres Kampfes gegen das Abschieberegime wachsen. Folglich sollte es unser Ziel sein, alles daran zu setzen, aktive und nach vorne drängenden Schwestern und Brüdern die notwendigen Mittel und Räume zur Verfügung zu stellen, damit sie sich austauschen und gleichzeitig jeden Angriff sofort entweder mit Aktionen oder öffentlichen Kampagnen abwehren können.
Folglich sind die aufflammenden Kämpfe in Niedersachsen von unseren Netzwerken besonders zu unterstützen und die Verteidigungskampagnen für die Geschwister Nurjana und Nuradil aus Gifhorn/Niedersachsen und für unsere Schwester Bela aus Gotha /Thüringen intensiv zu führen.
Der Tag in Erfurt wurde von zwei Songs von Nuradil beendet, in denen er seine Erfahrungen als jungen Flüchtling und dem Leben hier in Deutschland schildert:
„...Und wenn Du gefangen bist in diesem Asylantenheim
Wünschst du dir nur eins: Ein freier Mensch zu sein.
Migranten in Deutschland gibt nicht auf.
Wir müssen stark in unserem Leben sein.“
Videos und Bilder der Aktion: http://breakisolation.blogsport.de/
Mehr Links: Informationen über “Break Isolation Netzwerk” – FlüchtlingsInitiativen und Kampagne in Germany. >> http://thevoiceforum.org/node/2343
Spenden sind möglich über Überweisungen und Daueraufträge auf das Konto des Fördervereins <b>The VOICE e.V. Göttingen, Kontonummer: 127829, BLZ 260 500 01,</b> auf Wunsch auch zweckbezogen (Öffentlichkeitsarbeit, Vernetzung, Mobilität/Auto, Baden-Württemberg).
http://thevoiceforum.org/node/2344
Wenn ihr den Lastschrifteinzug bevorzugt, schreibt bitte eine E-Mail mit Name und Kontoverbindung und ggf. Adresse an foerderverein_the_voice@web.de
Vielen Dank, in Solidarität,
The VOICE Refugee Forum und Förderverein The VOICE e.V
http://thevoiceforum.org
Verweise:
Karawane Konferenz: Vereinigt gegen Koloniales Unrecht in Deutschland:
http://thecaravan.org/node/2125
Austausch über Organisierung und Widerstand in den Lagern:
http://thecaravan.org/node/2264
The VOICE Netzwerk zum Thema Koloniales Unrecht in Deutschland:
http://thecaravan.org/node/2017
Wir wollen nicht isoliert im Lager in Hesepe/Bramsche leben!:
http://thecaravan.org/node/3038