Auch in Rom wurde am vergangenen Samstag im Rahmen der weltweiten »Occupy«-Proteste demonstriert. Der schwarze Block lieferte sich Straßenschlachten mit der Polizei. Eine militante Krisenkritik wird von der italienischen Protestbewegung jedoch nicht unterstützt.
von Catrin Dingler
Vor dem ehemaligen Kommissariat stehen zwei ausgebrannte Autowracks. Das Gebäude ist eine schwarze Ruine. »So sieht Empörung aus!« steht auf einer der umliegenden Häuserwände. Ein paar Ecken weiter grinst ein Graffiti-Gesicht: »Die Rache der Prekären ist angekommen!« Spurensicherung entlang der gesprühten Parolen: zerstörte Geldautomaten, verwüstete Bankfilialen, eingeschlagene Ampeln, aufgerissenes Straßenpflaster, eine zerbrochene Madonnenstatue. Was genau sich zugetragen hat auf den beiden Hauptverkehrsachsen, die sich am Eingang zur Metrostation Manzoni kreuzen, erfährt der Großteil der Teilnehmer der römischen Demonstration zum 15. Oktober erst am Tag danach.
Lange Zeit hatten die italienischen Indignados keinen großen Zulauf, noch im Frühjahr scheiterten zwei Versuche, einen Platz der Hauptstadt länger als eine Nacht zu besetzen. Erst nachdem die Regierung im Sommer drei »Sparpakete« hintereinander verabschiedete und bekannt wurde, dass ihr die einzelnen Maßnahmen in einem Brief vom europäischen Notenbankvorsitzenden Jean-Claude Trichet und seinem designierten Nachfolger, dem Vorsitzenden der italienischen Zentralbank, Mario Draghi, diktiert worden waren, wuchs die Empörung. In Anlehnung an die »Occupy Wall Street« Bewegung formierten sich die »Draghi-Rebellen« gegen die Macht der Banken und Finanzmärkte. Aber auch Arbeiter der linken Metallgewerkschaft Fiom, die sich mit Studenten und prekären Kulturschaffenden zum Bündnis »Vereint für die Alternative« zusammenschlossen, mobilisierten für den 15. Oktober. Allen Beteiligten war klar, dass es eine imposante und spannungsgeladene Demonstration werden würde.
Nach Angaben der Veranstalter sind es knapp eine halbe Million Menschen, die sich am frühen Nachmittag zur Demonstration versammeln. Für viele überraschend, ziehen ein paar Dutzend Personen bereits nach wenigen hundert Metern Schlagstöcke aus ihren Rucksäcken. Sie zerschlagen Bankautomaten in der Via Cavour und plündern einen Supermarkt. Die Demonstranten reagieren zunächst nicht, auch die Polizei greift nicht ein. Auf der Straße der Fori Imperiali formiert sich hinter dem Banner »Wir fordern nicht die Zukunft, wir nehmen uns die Gegenwart« ein schwarzer Block. Mehrere Hundert zum Teil sehr junge Demonstranten in dunklen Kapuzenjacken und mit Mofahelmen marschieren nun in eng geschlossenen Reihen. Demonstrierende, die am Straßenrand auf höher gelegenen Terrassen stehen, beschimpfen den Block und rufen »Raus!«. Hinter dem Kolosseum kommt es zu Rangeleien mit Gruppen, die unmittelbar hinter den »Schwarzen« laufen, sie aufhalten und aus dem Zug drängen wollen. Für die Mehrzahl der Teilnehmer ist jedoch nicht klar, was an der Spitze der Demonstration passiert, sie sehen aus der Ferne nur Rauchschwaden aufsteigen. Als die Polizei schließlich beginnt, Tränengas und Wasserwerfer einzusetzen, wird die Situation noch unübersichtlicher. Mehr als eine Stunde dauert die Straßenschlacht mit einer immer größer werdenden Gruppe von Vermummten. Auch friedfertige Demonstranten werden von den Polizeikräften angegriffen. Diejenigen Gruppen, die vor dem schwarzen Block gelaufen sind und zu Beginn des Polizeieinsatzes die Piazza San Giovanni, auf der die Abschlusskundgebung hätte stattfinden sollen, bereits erreicht haben, flüchten in die dortige Basilika. Tausenden von nachrückenden Demonstranten verwehrt die Polizei dagegen den Zugang zur Piazza, sie ziehen schließlich zum Circus Maximus und über Umwege zur Universität La Sapienza. Der militante Block liefert sich in der anderen Richtung, rund um die Piazza Vittorio Emanuele, noch bis in den späten Abend weitere Scharmützel mit den Polizisten.
Für die Nachrichtenagenturen hat das »römische Inferno« zu diesem Zeitpunkt den friedlichen Ruf der Indignados längst kompromittiert. Im Mittelpunkt ihrer Bildserien steht fortan ein brennender Jeep der Carabinieri, auf dessen Rückseite die Parole »Carlo lebt!« gesprüht wurde. Zehn Jahre nach der Erschießung von Carlo Giuliani während der Proteste gegen den G8-Gipfel in Genua weckt die Ikonographie traumatische Erinnerungen. Sie suggeriert aber auch eine Kontinuität mit der damaligen Antiglobalisierungsbewegung, die bereits zuvor in den Medien behauptet und von den Organisatoren zurückgewiesen wurde. Luca Casarini, 2001 in Genua einer der Sprecher der Tute Bianche, betonte wenige Tage vor der Demonstration, dass das neue Bündnis »Vereint für die Alternative« an keine Tradition anknüpfen wolle, sondern in der historischen Krisensituation aus der »lebendigen Erinnerung« an die aktuellen Kämpfe der vergangenen Monate entstanden sei.
Die Ereignisse vom vergangenen Samstag zeigen tatsächlich eher Parallelen zu den Geschehnissen in Rom am 14. Dezember des vergangenen Jahres, als eine große Schüler- und Studentendemonstration in einer kurzen, gewalttätigen Auseinandersetzung mit der Polizei endete, nachdem das Scheitern eines gleichzeitig stattfindender Misstrauensantrag gegen die Regierung bekannt geworden war. Ministerpräsident Silvio Berlusconi sicherte sich damals durch einen Kuhhandel mit einigen Abgeordneten der Opposition die notwendige Stimmenmehrheit. Ebenso hatte er vergangene Woche just einen Tag vor dem 15. Oktober eine weitere Vertrauensabstimmung für sich entschieden.
In einem Aufruf zur Demonstration hatte die Hochschulgruppe Uninomade davor gewarnt, dass »die Überschneidung der langen Agonie des Berlusconismus mit den sich überstürzenden Ereignissen der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise zu einer Reihe von verzerrten Wahrnehmungen und optischen Täuschungen« führen könnte. Eine breite Front, die von der parlamentarischen Opposition über die katholische Kirche bis zum Unternehmerverband reiche, sei zwar inzwischen an einer Ablösung Berlusconis interessiert, plädiere aber weiterhin für neoliberale Lösungen in einer Krise, die das neoliberale System provoziert habe. Deshalb gelte es, vehement für einen radikalen Systemwechsel zu kämpfen: für einen »gemeinwohlorientierten Sozialstaat«, für das »Recht auf Staatsbankrott« und für eine »Europäisierung der Schuldenkrise«.
Auch Fausto Bertinotti, der ehemalige Vorsitzende der Partei Rifondazione Comunista, reflektierte in einem langen Artikel für seine Zeitschrift »Alternativen zum Sozialismus« schon Ende September über die »Opportunität der Revolte«: Kein Reformismus sei in der Lage, in der Krise des globalen Finanzkapitalismus zu einem überzeugenden politischen Subjekt zu werden. Radikale politische und kulturelle Kämpfe seien »unaufschiebbar«, um »die Arroganz der Macht« zu brechen. Deshalb gelte es, die außerparlamentarischen Oppositionsbewegungen zu unterstützen.
Doch so radikal die Forderungen auch formuliert wurden, so unmissverständlich waren gleichzeitig die Aufrufe zur Gewaltlosigkeit. Casarini hob hervor, dass der »Systemwechsel« in der italienischen Gesellschaft zwar nicht mehr nur Gegenstand von einer intellektuellen Elite sei, sondern durchaus mehrheitsfähig werden könne, allerdings nur, wenn sich die »Mobilisierung der gesamten Gesellschaft« realisieren ließe. »Millionen von Personen« müssten zu Protagonisten der neuen Kämpfe werden.
Umso größer war die Enttäuschung, dass die Demonstration gewaltsam auseinandergerissen wurde. Doch schon am Sonntag traf die Empörung der Indignados, die eben noch den Bankern und Politikern gegolten hatte, die »Gewalttätigen«. Die Wut entlud sich vor allem in den sozialen Medien, über Facebook wurden Aufrufe verschickt, zur Identifizierung der »Schwarzen« beizutragen und deren Straftaten zur Anzeige zu bringen. Die Sprecher der exponierten römischen Gruppierungen distanzierten sich von diesen Denunziationsaufrufen, sie fordern in Anbetracht der komplexen gesellschaftlichen Dynamik eine offene Diskussion über die Vorfälle. Die Radikalisierung der Proteste sei auch eine Folge der immer schwieriger werdenden wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse.
Obwohl der Regierung in den letzten Monaten nicht nur von internationalen Ratingagenturen, sondern auch von der italienischen Staatsanwaltschaft wiederholt die Vertrauenswürdigkeit abgesprochen wurde und interne Zerwürfnisse die Rechtskoalition offensichtlich handlungsunfähig machen, fehlt weiterhin jede institutionelle politische Alternative. Es gelingt der Opposition weder, die Regierung zu Fall zu bringen, noch können sich die linksliberalen Parteien auf ein gemeinsames Minimalprogramm für den Fall von Neuwahlen einigen. Und nun droht dem fragmentierten Lager eine erneute Spaltung entlang der alten Bruchlinie zwischen moderaten und radikalen Linken.
Die rechte Regierung hat derweil erste Repressionsmaßnahmen eingeleitet und landesweit centri sociali und Hausprojekte verschiedener anarchosyndikalistischer Gruppen durchsucht. Roms Bürgermeister Gianni Alemanno sprach ein einmonatiges Demonstrationsverbot für die Hauptstadt aus. Auch der seit langem für Freitag dieser Woche angekündigte Protestmarsch der Metallgewerkschaft Fiom soll abgesagt und auf ein Sit-in beschränkt werden. Verstöße gegen das Demonstrationsverbot und die öffentliche Ordnung sollen künftig härter bestraft werden. Antonio di Pietro, der Vorsitzende der Partei »Italien der Werte«, forderte sogar die Wiedereinführung der sogenannten Legge Reale, eines Gesetzes, das in den siebziger Jahren als Notverordnung zur Bekämpfung der Roten Brigaden erlassen wurde. Es erlaubt die »präventive Verhaftung« von Verdächtigen und erleichtert der Polizei den Gebrauch von Schusswaffen. Der Vorschlag di Pietros wurde von Innenminister Roberto Maroni umgehend aufgegriffen. Dieser muss sich mittlerweile für das verspätete Kommando zum Eingreifen und den brutalen Angriff auf die Demonstranten an der Piazza San Giovanni rechtfertigen.