Interview mit chilenischem Aktivisten

Bildungsproteste in Chile

Alejandro Suarez ist 48 Jahre alt und chilenischer Aktivist.
Hallo Alejandro, berichte uns doch kurz von den Protesten der Studenten und Schüler in Chile?
Seit fünf Monaten steht der Schul- und Unibetrieb an vielen Schulen und Universitäten vollkommen still. Die Jugendlichen finden viele verschiedene Protestformen, einige besetzen ihre Schulen und verbarrikadieren die Türen, andere streiken und verweigern die Beteiligung am Unterricht.


Jeden Donnerstag gibt es in allen größeren Städten eine zentrale Demonstration aller Schülerinnen, Schüler und Studenten der betreffenden Städte. In Santiago de Chile, der Hauptstadt, demonstrieren momentan jeden Donnerstag 100.000 bis 180.000 Personen. Die Proteste sind von riesigem Ausmaß, wir haben seit dem Ende der Diktatur von Pinochet, das durch Demonstrationen erzwungen wurde, keine solchen Proteste mehr erlebt.

  
Was sind die Gründe für die Proteste?

Das Bildungssystem in Chile wurde 1981 unter der Diktator von Pinochet privatisiert, die staatlichen Mittel wurden aus dem Bildungssystem abgezogen und stattdessen in Subventionen für private Unternehmer gesteckt. Seitdem ist die Qualität der staatlichen Bildung extrem gesunken, gute Bildung gibt es eigentlich nur noch in privaten Schulen und Universitäten, aber die sind extrem teuer. Immoment muss ein Student für einen Uniabschluss ungefähr soviele Schulen aufnehmen, wie auch nötig wären, um ein Haus zu kaufen. Für fünf Jahre Universität zahlen viele Studenten danch 20 Jahre ihre Kredite ab. In der Schule sieht es ganz ähnlich aus.

Was fordern die Jugendlichen in Chile?

Ihre Forderungen sind ziemlich radikal, denn sie fordern letztlich, die Bildung dem Einfluss des Marktes komplett zu entziehen. Bildung soll kostenlos sein und nicht den Interessen der Unternehmen unterliegen.

Wie steht die Regierung zu diesen Forderungen?

Sie steht ihnen natürlich negativ gegenüber, die Regierung fährt einen neoliberalen Kurs und sie streben eigentlich das genaue Gegenteil von Verstaatlichungen an. Drei der amtierenden Minister im Regierungskabinett sind selbst Besitzer von Universitäten. Der letzte Bildungsminister ebenfalls, er wurde aber durch die großen Proteste zum Rücktritt gezwungen.

Wie organisiert sich die Protestbewegung und wie werden die Vertreter der Jugendlichen legitimiert?

Die Jugendlichen sind sozusagen in Komitees organisiert, die von der Schul- oder Fachebene aus, Delegierte in die oberen Strukturen von Bezirken, Städten, Fakultäten, Universitäten usw. schicken. Besonders die Verhandlungsführer, die die Jugendbewegung vertreten, haben einfach ein fantastisches politisches Niveau erreicht. Sie sind hervorragend gebildet, kennen sich in allen wesentlichen politischen Fragen aus, und blamieren auch manchmal die Parlamentsabgeordneten in die Diskussionen – so hoch ist ihr Niveau.

Schon 2006 haben in Chile Schülerinnen und Schüler zwei Monate den Schulbetrieb lahm gelegt, gibt es einen Zusammenhang zwischen dieser Bewegung und der aktuellen?

Ja, damals war diese Bewegung vor allem eine Schülerbewegung, gegen die weitere Privatisierung der verschiedenen Schulen. Heute sind die Aktivsten dieser Streikwelle auf der Uni, aber gleichzeitig ist es gelungen die Schüler und Studenten zusammen zubringen. Es besteht ein Zusammenhang und die Gesamtbewegung ist stärker geworden. Es gibt aber überhaupt in Chile eine ziemlich kämpferische Tradition der Arbeiterbewegung.

Wie sieht diese Tradition der Arbeiterbewegung aus?

Sie stammt ursprünglich noch aus der Zeit des Sozialisten Salavador Allende, der durch den Militärputsch von Pinochet gestürzt wurde. Die Bevölkerung hat es aber geschafft mit ihren Protesten nach zwei Jahrzehnten auch diesen Diktator los zu werden. Es gibt zwar immer wieder schwere Zeiten, in denen die Proteste abflauen, aber die Bewegung ist wie gesagt sehr traditionsreich und in der ganzen Bevölkerung ist das notwendige Wissen für Selbstorganisation und politische Auseinandersetzungen vorhanden.

Unterstützt der Rest der Bevölkerung die Forderungen der Jugendlichen?

Natürlich, die Bildung ist eine riesige finanzielle Belastung für jede Familie. Mittlerweile haben sich aber auch andere Protestbewegungen der Jugendbewegung angeschlossen. Auch die Arbeiterinnen und Arbeiter im Gesundheitsbereich streiken für bessere Arbeitsbedingungen und man kann im Moment in verschiedenen Städten einen Aufschwung der Umweltschutzbewegung beobachten.

Die Proteste nehmen also bereits Ausmaße an, die über den Bereich Bidlung hinaus gehen?

Ja, auf jeden Fall und das Beeindruckende ist, auch das gesamte politische und wirtschaftliche System wird hinterfragt. Die Bevölkerung lehnt die neoliberale Politik der Regierung ab und fordert eine neue Verfassung, denn die aktuelle chilenische Verfassung stammt abgesehen von wenigen Veränderungen noch aus der Zeit von Augusto Pinochet. Den Präsident Sebastián Piñera würden heute nach Umfragen nurnoch 28% der Bevölkerung wieder wählen.

Wie schätzt du die Proteste in Nordafrika und der arabischen Welt ein? Dienen die als eine Art Vorbild für die Proteste in Chile?

Ja, da gibt es natürlich Parallelen. Die Art und Weise, wie zu den Protesten mobilisiert wird ist ähnlich, es wird viel über Facebook und Twitter gemacht. Auch die Organisationsformen in unabhängigen Organisationen, die sich die Jugendlichen selbst aufbauen ist ähnlich. Genau wie Europa und Nordafrika werden die Proteste nicht von irgendeiner politischen Partei dominiert, sondern es ist die Bevölkerung selbst, die aufsteht und Kritk daran übt, dass alle Parteien egal ob „links“, „mittig“ oder „rechts“ seit Jahrzehnten das gleiche Wirtschaftssystem aufrecht erhalten.

In Deutschland ist viel von der Gewaltanwendung der Polizei und von den angeblich randalierenden Jugendlichen die Rede, wird die Gewalt von allen Demonstranten ausgeübt oder nur von einer kleinen Minderheit?

Die Polizei geht sehr brutal vor und ist hochgerüstet wie Soldaten. Ein 16-Jähriger wurde bereits erschossen. Jede Woche werden zig Demonstranten verletzt.

Das hat natürlich zur Folge, dass alle Demonstranten mehr Verständnis gewinnen dafür, dass es notwendig sein kann selbst Gewalt anzuwenden, um sich zu verteidigen. Das ganze wird mehr und mehr als „Selbstverteidigung“ begriffen. Man kann beobachten, dass sich einfache Studenten, die vor einigen Monaten Gewalt noch abgelehnt hätten mit den altbekannten linken Aktivisten vermischen.