Der Politik vertrauen sie längst nicht mehr, also versuchen sich Spaniens enttäuschte Studenten an einer Art eigenem Staatswesen: In Nachbarschafts-Räten und auf den Plätzen der Städte streiten sie über die Zukunft ihres Landes. Jetzt wollen die Open-Air-Idealisten ihre Ideen exportieren.
Es plagen sie Zweifel am eigenen Staat: "Ich denke nicht, dass Spanien eine echte Demokratie ist", sagt Carmen Nieto Cornellá, 26, dunkles Haar, rosa Trägerhemd. "Die Politiker treffen ständig große Entscheidungen, ohne die Menschen nach ihrer Meinung zu fragen."
Ja, sie ist verdrossen von der Politik. Aber Carmen wendet sich deswegen nicht ab, zuckt nicht mit den Schulten und bleibt nicht zu Hause. Sie hockt auf dem Puerta del Sol, einem zentralen Platz in Madrid, zusammen mit hunderten anderer, die denken wie sie.
Die "Indignados", die Empörten, sitzen und stehen in losem Kreis herum - und diskutieren die Zukunft ihres Landes. Notizblöcke und Bierdosen haben sie mitgebracht und jede Menge Wut und Aktionismus. Immer wieder bleibt jemand stehen, der von der Arbeit nach Hause eilt oder vom Einkaufen, und hört zu, was dieser Freiluft-Rat zu sagen hat. Eine Gebärden-Dolmetscherin übersetzt für Gehörlose.
Carmen ist von Anfang an dabei, seit dem 15. Mai, der dieser Bewegung ihren Namen gab. Damals begannen die Empörten aufzustehen, darunter viele Studenten und Uni-Absolventen, Mitte 20, Anfang 30, bestens ausgebildet und dennoch arbeitslos. Denn fast jeder zweite Spanier unter 30 findet keinen Job, viele schlagen sich durch, schlecht bezahlt, wohnen noch Jahre nach dem Uni-Abschluss bei den Eltern.
"Irgendwann hätte ich jeden Job genommen"
Sie wollten endlich gehört werden. So campten Zehntausende im Frühjahr wochenlang auf dem Sol; ihr Slogan: "Echte Demokratie jetzt!" Sie schleppten Zelte, Hängematten und Schlafsäcke auf den Platz und organisierten ihr eigenes kleines Staatswesen: Unzählige Komitees diskutierten über Bildung, Umweltschutz, Rüstung und kümmerten sich um Organisatorisches wie die Müllentsorgung. Über gemeinsame Forderungen entschied die Hauptversammlung.
Carmen hat Soziologie studiert und war danach arbeitslos, monatelang, bevor sie dann in einem Marktforschungsinstitut anfing. "Irgendwann hätte ich jeden Job genommen. Doch ich hab nicht mal etwas in einer Bar bekommen, obwohl ich Erfahrung als Kellnerin habe."
Einige Meter weiter bekommt ein Mann das Megafon gereicht. Er attackiert die Regierung und fordert, dass bei einer Verfassungsänderung das Volk befragt werden müsse. Jeder darf hier sprechen, jedes Thema ist willkommen. Chaos herrscht dennoch nicht. Der Moderator sorgt dafür, dass immer nur einer spricht und lässt erst danach Einwände zu, strikt nach Rednerliste. Per Handzeichen signalisieren die Zuhörer Zustimmung oder Ablehnung - seit Monaten erprobte Open-Air-Demokratie.
Tohil Delgado Conde, 28, Vorsitzender der Studentenvereinigung Madrid, kennt die Probleme seiner Altersgenossen: "Wir sind die bestausgebildete Generation, die Spanien je hatte, und trotzdem gibt es keine Jobs für uns."
Aus dem Freiluft-Staat wurden Nachbarschafts-Räte
Jahrelang hatten er und seine Kommilitonen gegen Bologna-Reformen und Studiengebühren demonstriert. Mittlerweile geht es der Bewegung um weit mehr, nicht mehr nur um bessere Jobchancen und Uni-Bürokratie . Sie suchen nach neuen Wegen, ihr Zusammenleben zu organisieren. Als sie ihren Zeltstaat auf dem Puerta del Sol wieder abgebaut hatten, trugen sie ihre Ideen hinein in die Stadtteile Madrids.
In vielen Vierteln gründeten sich so Nachbarschaftsversammlungen. Will die wöchentliche Hauptversammlung auf dem Sol eine Entscheidung treffen, muss sie die Stadtteile konsultieren.
Auch in Barcelona gibt es 23 solcher Stadtteil-Räte. Elf davon haben sich im September zusammengetan, um für zwei Wochen die "Offene Universität der Empörten" zu organisieren. Eine Organisatorin heißt Carmen Jarque, sie ist 24. "Wenn wir etwas in unserer Gesellschaft erreichen wollen", sagt sie, "dann müssen wir uns informieren. Wir müssen wissen, was zu tun ist!" Auch die Vorlesungen finden unter freiem Himmel statt.
An einem grünen Pavillon werden Flyer und das "Vorlesungsverzeichnis" der Offenen Uni verteilt. Damit jeder alles mitbekommt, haben die Organisatoren Lautsprecher aufgebaut. Nach der Auftaktveranstaltung auf dem zentralen Plaza de Catalunya geht es wieder in die Stadtteile. Gesprochen wird über alles: Politik, Wirtschaft, das Gesundheitssystem, Bildung.
Wie die Empörten ihre Wut internationalisieren wollen
Als die Empörten begannen, auf dem Plaza de Catalunya zu zelten, war Carmen noch skeptisch: "Es waren zu viele Menschen, zu viele Themen. Es war schwierig, etwas in den zentralen Versammlungen zu bewegen." Doch als sich die Gruppe auch in Barcelona in die Stadtteile verteilte, schloss sie sich an: "Das sind deine Nachbarn, die kennt man. Hier will man etwas unternehmen."
Auch África Periánez wollte etwas unternehmen. Doch als die Proteste im Mai starteten war sie für ein Praktikum in Frankfurt am Main, also gründete sie kurzerhand dort einen Ableger, rekrutierte Mitstreiter über Facebook und organisierte wöchentliche Treffen. "Ich versuche die Bewegungen in beiden Ländern zu verbinden", sagt sie.
Gerade ist sie in Madrid, abseits der Hauptversammlung, in der Nähe des Info-Tisches, trifft sich die Gruppe "Internationales". Spanier, Franzosen und Italiener diskutieren, wie man die Bewegung auf weitere Länder ausweiten kann. Eine Übersetzergruppe kümmert sich jetzt erstmal um Flyer und offene Briefe. Doch das wichtigste Thema ist der Aufstand der Empörten, geplant für den 15. Oktober, in vielen Ländern gleichzeitig; auch in Deutschland soll es Aktionen geben.
Soziologin Carmen Nieto Cornellá kramt Tabak, Blättchen und Filter hervor, sie sitzt bei der Versammlung in Madrid. "Manchmal fehlt es der Bewegung an Selbstkritik", sagt sie. "Vielen meinen, wir hätten schon viel erreicht, dabei wäre noch viel mehr möglich."
Doch in einem stimmt sie mit den anderen Indignados überein: Die Selbstorganisation wird Spanien verändern. "Wir waren auch früher schon wütend, doch wir sprachen höchstens zuhause mit unseren Freunden darüber. Jetzt sind wir in den Straßen und machen unser eigenes Ding!"