Kampf um Englands Traveller-Hochburg

Erstveröffentlicht: 
20.09.2011

Erst wurden Roma in Frankreich vertrieben, nun greift auch England hart durch: Die größte Traveller-Siedlung des Landes soll mit Gewalt geräumt werden, Menschenrechtler sprechen von "ethnischer Säuberung". In letzter Minute gebot ein Gericht den Bulldozern Einhalt - vorläufig.

 

Um 15 Uhr kommt die letzte Warnung. "Wie Sie wissen, gibt es eine gerichtliche Anordnung", ruft ein Mann mit blauer Weste und Bauarbeiterhelm durch ein Megafon. Er ist der Gerichtsvollzieher, begleitet von weiteren Männern in Blau und einer Polizeieskorte. "Das Gelände muss wieder in eine Grünzone verwandelt werden."

"Faschisten", brüllen die Aktivisten, die einen Schutzring um die Dale Farm in der englischen Grafschaft Essex gebildet haben. Von den Barrikaden hängen Transparente: "Keine ethnische Säuberung". Einige haben sich angekettet oder einbetoniert. Am Eingangstor zu dem Gelände hängt ein handgeschriebenes Schild: "Todesgefahr. An diesem Tor ist eine Frau mit ihrem Hals befestigt. Wenn Sie versuchen, dieses Tor zu öffnen, bringen Sie sie um."

Es ist Montagnachmittag in Basildon, eine Stunde östlich von London. Auf dem mehrere Hektar großen Gelände von Dale Farm stehen Wohnwagen und feste Bungalows. Rund 400 irische Traveller und einige Roma wohnen darin, es ist die größte illegale Wohnwagensiedlung in Großbritannien. Seit Tagen laufen hier die Vorbereitungen auf die "Battle of Basildon", wie sie in den Boulevardzeitungen genannt wird.

Die "Zigeuner" sollen weg


Auf der einen Seite in diesem Kampf steht ein Großteil der Bevölkerung und die Stadtverwaltung: Sie wollen die "Zigeuner" aus der Gegend weghaben. Anwohner beklagen sich über sinkende Immobilienpreise und eine verschandelte Landschaft. Auf der anderen Seite stehen 86 Traveller-Familien, deren Kinder in die örtliche Grundschule gehen und die von dem ehemaligen Schrottplatz vertrieben werden sollen, den sie vor zehn Jahren gekauft haben.

Die irischen Traveller, die wie Sinti und Roma in Wohnwagen leben, sind nirgendwo in Großbritannien gern gesehen. In einem Land, das stolz auf seine Liberalität ist, wird keine Minderheit so offen beschimpft und diskriminiert wie die rund 300.000 Landfahrer. Regelmäßig erhebt sich lokaler Protest, wenn sie sich irgendwo ansiedeln.

Dale Farm ist nun zu einem Symbolfall geworden, in dem Premierminister David Cameron auf Konfrontationskurs zu Amnesty International und einigen Uno-Organen gegangen ist. Cameron und der konservative Stadtrat verweisen auf die fehlenden Baugenehmigungen der Traveller, es ist das formal-juristische Argument. Die Menschenrechtler hingegen verweisen auf das rechtmäßig erworbene Land, das Gewohnheitsrecht, die 107 Traveller-Kinder in der Schule, die drohende Obdachlosigkeit: Es ist das humanitäre Argument.

Morgens um acht sollte die Räumung beginnen


Am Montag erreichte der seit Jahren schwelende Streit um das Lager seinen vorläufigen Höhepunkt. Die Stadtverwaltung rückte mit Räumkommandos an, Dutzende Fahrzeuge bezogen in langen, ordentlichen Reihen auf dem anliegenden Feld Stellung. Ein ganzes Zeltlager war für die Sicherheitskräfte errichtet worden. Morgens um acht Uhr sollte die Räumung beginnen, doch es kam anders.

Aus London und anderen Städten waren erfahrene Demonstranten angereist und hatten die Dale Farm in eine Festung verwandelt. Meterhohe Barrikaden, dahinter angekettete Aktivisten und davor Dutzende Reporter aus aller Welt - dieser Anblick ließ die für ihre Härte bekannten Räumkräfte zögern. Am Mittag gaben sie sich in einer Pressekonferenz noch entschlossen: Die Räumung könne jederzeit starten. Als erster Schritt wurde um 16 Uhr der Strom zum Gelände abgeschaltet.

Doch dann kam, in letzter Minute, die überraschende Wende: Der High Court in London erließ am späten Nachmittag eine einstweilige Verfügung. Die Räumung wurde ausgesetzt. Die Stadtverwaltung muss nun den Travellern genau erklären, was auf welchem der 51 illegal bebauten Grundstücke gegen die Bauordnung verstößt. Am Freitag will der Richter entscheiden, ob die Räumung vollzogen werden kann.

Niemand will eine Wohnwagensiedlung im Ort haben


Der Chef der Stadtverwaltung, Tony Balls, zeigte sich "extrem enttäuscht und frustriert". Die Kosten der Operation werden ohnehin schon auf 18 Millionen Pfund geschätzt. Jede Verzögerung treibe die Rechnung für den Steuerzahler in die Höhe, sagte er. Doch der Richter erklärte, niemandem sei mit einem "Riot", einem Aufstand, in Dale Farm gedient. Man müsse nun sehen, ob man die Frage "auf weniger zerstörerische Weise" lösen könne.

Das Grundproblem jedoch bleibt: Wenn die Räumung wie erwartet mit einigen Tagen Verspätung vollzogen wird, dann werden sich die 400 Traveller einen neuen Platz zum Wohnen suchen müssen. Private Grundstücke sind Mangelware, weil keine Kommune eine Wohnwagensiedlung im Ort haben will. Und auf öffentlichen Straßen und Plätzen werden die Landfahrer seit den neunziger Jahren auch nicht länger als 24 Stunden geduldet.

Einer von fünf Travellern in Großbritannien wohne illegal, sagt der liberaldemokratische Unterhausabgeordnete Andrew George. Dale Farm sei symptomatisch für die nationale Lage. Die entscheidende Frage sei, wie man "kulturell angemessenen Wohnraum" für die Traveller bereitstellen könne. Sie einfach so von einem angestammten Platz zu vertreiben, sei jedenfalls keine Lösung. "Damit sagt man den Leuten nur, von einer illegalen Situation in die nächste zu ziehen."