Eigentlich wollte ich am vergangenen Sonntag, den 11. September, zum alljährlichen Aktionstag gegen Rassismus, Neonazismus und Krieg ( http://www.tag-der-mahnung.de/ ), der von 13:00 bis 18:00 Uhr am Lustgarten zwischen Dom und Alter Nationalgalerie zum 21. Mal abgehalten wurde. Weil aber bereits am Samstag im Internet plötzliche, auch in den Medien nicht angekündigte Polizeiaktivitäten auf dem Alex gemeldet und der Verdacht geäußert wurde, der Alexanderplatz solle klammheimlich für eine NPD-Wahlkundgebung abgesperrt werden, beschloß ich, mir zunächst das Nazi-Spektakel am Alex anzusehen und danach die Gedenktags-Veranstaltung am Lustgarten zu besuchen.
Was ich anfangs trotz schlechter Erfahrungen als Demo-Berichterstatter mit der Polizei nicht so recht glauben wollte, war am Sonntagvormittag Gewißheit: Der Alexanderplatz war geradezu bürgerkriegsmäßig für die Bevölkerung, also BerlinerInnen und Touries, komplett mit sogenannten Hamburger Gittern abgesperrt. Ein Riesenaufgebot von über 1.000 Polizeikräften sorgte dafür, daß die Neonazis ihre Kundgebung mit dem angesichts der Situation makaberen Motto "Sicherheit durch Recht und Ordnung" durchziehen konnten. Bis zuletzt war von Polizei und NPD als bewußte Falschmeldung kolportiert worden, die Veranstaltung würde am S-Bahnhof Schöneweide stattfinden. Diese offenkundig einvernehmliche Kumpanei zwischen der Berliner Polizeiführung und Neonazis ist für ein Gebilde, das sich demokratischer Rechtstaat nennt, eine seit den schlimmen Naziverbrecherzeiten kaum für möglich gehaltene Lumpanei. Dazu später mehr.
Relativ spät machte ich mich am Sonntag auf den Weg zum Alex und traf so gegen 14:20 Uhr dort ein. Fast alle S- und U-Bahn-Ausgänge einschließlich Behindertenfahrstühle in Richtung Alex waren gesperrt und wurden von Polizei in Kampfmontur bewacht. Es gab auch für die Presse nur die Möglichkeit, den Bahnhof in Richtung Rotes Rathaus, auf die Dircksenstraße zum Galeria Kaufhof oder zur Karl-Liebknecht-Straße zu verlassen, um auf Umwegen zu den Absperrungen am Alex zu gelangen. Nachdem ich mich mit einigen Antifas kurzgeschlossen hatte, entschied ich mich für die Gitterwand am Galeria Kaufhof. Hier standen auch bereits zahlreiche GegendemonstrantInnen. Mit meinem Presseausweis gelangte ich dann problemlos durch die Absperrung auf die gruselig menschenleere, schwer bewachte Freifläche, die eher an eine Science-Fiction-Filmkulisse erinnerte als an den sonst so quirlig bunten lauten Alexanderplatz. Am sonst von Punks, Touries und BerlinerInnen so gern als Stätte der Begegnung besuchte Brunnen der Völkerfreundschaft ( http://de.wikipedia.org/wiki/Alexanderplatz#Brunnen_der_V.C3.B6lkerfreun... ) fläzten sich jetzt gelangweilte PolizistInnen in Kampfmontur. Irgendwie wurde ich an George Orwells Roman 1984 ( http://de.wikipedia.org/wiki/1984_%28Roman%29 ) erinnert. Das schwülwarme Wetter tat sein Übriges, die bedrückende Atmosphäre zu verstärken.
Vom anderen Ende des Alex, am Alexanderhaus ( http://www.berlin.de/orte/sehenswuerdigkeiten/berolinahaus/ ) war Lautsprechergeplärre zu hören. Ein Podium war zu sehen und davor lungerten finstere Gestalten. Das mußte die braune Horde sein, die in Lumpanei mit der Polizeiführung den Alexanderplatz für mehrere Stunden okkupiert haben! Beim Näherkommen erkannte ich viele bekannte und zum Teil wegen Gewaltdelikten straffällig gewordene bekannte Neonazis. Diese ausgewiesenen Rechtskriminellen konnten sich dank und mit Hilfe der Berliner Polizeiführung inklusive der Versammlungsbehörde auf dem bevölkerungsbefreiten Alexanderplatz austoben und in nationalistischen und rassistischen Hetzparolen ergehen. Udo Pastörs (NPD-Abgeordneter in MV) durfte von "grünen Landesverrätern", von "Hinterwäldlern der Piratenpartei" und der "Reichshauptstadt Berlin", die endlich für eine "nationale Regierung" reif sei, geifern, ohne daß die zuhörende Polizei-Einsatzleitung oder gar der ebenfalls anwesende Joachim Haß, Chef der Versammlungsbehörde, Einhalt gebot. Gerade Letzterer tut sich sonst auf linken Demos regelmäßig hervor, diese mit widersinnige Demoauflagen zu schikanieren bis hin zur Beschlagnahme oder gar Zerstörung von mißliebigen Transpis. Linke Lautis werden gestürmt, wenn dort Musik abgespielt oder Durchsagen kommen, die nach Meinung der Polizei nicht passen.
Hier auf dem Alex schien Joachim Haß in seinem Element. Immer wieder konnte ich sein zufriedenes Grinsen beobachten. Das erinnerte mich sofort an einen Vorfall vom vergangenen April, als Joachim Haß sich unter eine Nazidemo in der Lipschitzallee gemengt haben will, um sich angeblich ein "Bild von der Lage" zu machen. Als Gegendemonstranten die Nazis angriffen, habe er sich "wehren" wollen und, wie es heißt, mit einem Teleskop-Schlagstock auf die Angreifer eingeschlagen. Ein Beamter, der Haß nicht kannte, hielt ihn für einen gewalttätigen Demonstranten, machte ihn mit Reizgas kampfunfähig und nahm ihn anschließend fest. Etwas später wurde der Beamte über die Funktion des von ihm Eingesprühten aufgeklärt. Durch Berlin ging danach ein stadtweites Grienen und das Mitgefühl für Haß aus der linken Szene, auch meines, hielt sich sehr in Grenzen. Wie auch immer, hier auf dem Alex sah Joachim Haß nicht den kleinsten Grund, intervenieren zu müssen, die ihm so zu schaffen machenden Linken, der Frust darüber hat sich tief in sein Gesicht gegraben, waren ja weiträumig ausgesperrt und erfuhren ja listigerweise bis zuletzt nichts von der Täuschung, die Kundgebung am Alex und nicht in Schöneweide abzuhalten. Er schien jedenfalls am Sonntag rundum zufrieden, außer mir und ein paar anderen Szene-Fotografen keine Linken auf dem Alex sehen zu müssen (Satire aus).
Nicht nur das Jaulen des Sleipnir-Sängers wegen Stalingrad und der verlorenen Lebensräume im Osten und das schluchzende Gekreische von Udo Voigt über den bösen "linkskriminellen Mob", die Jan Sturm und Sebastian Thom verprügelt hätten, und seine rassistischen Ausfälle auf "schmarotzende Ausländer" waren mehr als nervend. Die vielen Nazi-Embleme und T-Shirt-Motive, auf denen u. a. die NS-Zeit, insbesondere der Wehrmachtsüberfall auf die UDSSR, verherrlicht bzw. verklärt wurden und/oder zum Hängen von sogenannten Kinderschändern animiert und zum (Selbst-)Morden von Antifas aufgerufen wurde, haben die Polizeieinsatzleitung nicht zum Eingreifen bewegt. Wenn dagegen auf linken Demos ein T-Shirt den Aufdruck A.C.A.B. trägt, ist in der Regel eine Anzeige fällig, auch wenn erklärt wird, das Kürzel A.C.A.B. heiße nicht "all cops ar bastards" sondern "all colours are beautiful". Die BRD-Staatsmacht sieht eben auf dem linken Auge "besser" und ist auf dem rechten dagegen so gut wie blind.
Gegen 16 Uhr war der braune Spuk auf dem Alex endlich vorbei und die gesamte Horde wurde unter Polizeischutz mit der S-Bahn nach Lichtenberg gekarrt. Unter http://de.indymedia.org/2011/09/315803.shtml ist nachzulesen, wie's dort am Abend weiterging.
Meine 102 Fotoimpressionen vom Alex sind unter http://www.carookee.com/forum/freies-politikforum/1/28270121#28270121 eingestellt. Sämtliche Demo-Fotos dürfen bei namentlicher Nennung des Knipsers und Angabe der Quelle für nichtkommerzielle Zwecke gerne heruntergeladen, gespeichert und weiterverbreitet werden. Der Textbericht ist unter http://www.carookee.com/forum/freies-politikforum/1/28273695#28273695 nachzulesen.
RÜCKBLICK
In den Berliner Medien heißt es dieser Tage, die Vizepräsidentin der Berliner Polizei, Margarete Koppers, sei verantwortlich dafür, daß der NPD-Spuk am Alex geheimgehalten und mit der NPD ausgekungelt worden sei. Das wird sicher seine Richtigkeit haben, ist aber m. E. nur die halbe Wahrheit. Frau Koppers wird wohl kaum ohne Beratung mit der übrigen Polizeiführung und der angeschlossenen Versammlungsbehörde diese Entscheidung getroffen haben. Auch scheint mir zweifelhaft, daß ausgerechnet der rechtsflügelige SPD-Law-and-Order-Mann, Dr. Erhart Körting, nicht mal am Rande involviert gewesen sein soll. Es besteht durchaus die Möglichkeit, daß Frau Koppers von ihren polizeiinternen Beratern mit Absicht aufs Glatteis geführt worden ist. Denn ganz gewiß wittern einige reaktionäre Hardliner Morgenluft in Sachen Rücknahme der Kennzeichnungspflicht und der Deeskalationsstrategie auf linken Demos. Seit der polizeiintern ungeliebte Glietsch in Pension ist, scharren die sich für befähigt haltenden Reaktionäre mit den Hufen und bringen sich in Stellung, soll heißen, den Kampf ums Polizeipräsidentenamt geben sie noch längst nicht verloren. Vielleicht funktioniert's ja irgendwie über den Umweg Koppers - mit oder ohne ihr Einverständnis.
In jedem Fall ist es eine Verhöhnung des sogenannten demokratischen Rechtsstaates, ja, sogar ein Versagen der "demokratischen Mitte" in der BRD-Zivilgesellschaft, daß Kungeleien zwischen Polizei und Neonazis aus welchen Gründen auch immer (wieder) möglich sind. Die Nazis werden insbesondere nach ihrem neuerlichen Wahlerfolg in Mecklenburg-Vorpommern nunmehr dank Berlins "demokratischer Mitte" in Politik und Zivilgesellschaft neues Selbstbewußtsein getankt haben.
Aktive Antifaarbeit tut mehr denn je not!
VENCEREMOS !