Die nordhessische Stadt Kassel liegt zwar mitten in Deutschland, doch auch hier werden die Grenzen der Festung Europa sichtbar. Denn es kommt immer wieder zu rassistisch motivierten Personenidentifikationskontrollen durch Polizist_innen, die auf der Suche nach Menschen ohne (gültige) Papiere sind, insbesondere solche, die residenzpflichtig sind und sich deshalb in einem, für sie, unerlaubten Gebiet aufhalten könnten.
Häufig sind deshalb Polizist_innen besonders in Regionalzügen und an Bahnhöfen auf der Suche nach „Illegalen“. Sie kontrollieren die Ausweisdokumente von Menschen, die „nicht-deutsch“ aussehen.
Bei ihrer Einschätzung wer „deutsch“ und wer „nicht-deutsch“ ist, verlassen sie sich auf ihre langjährigen Erfahrungen, so die Antwort einer Polizistin auf Nachfrage. Natürlich fallen Menschen mit dunkler Hautfarbe, so wie der Student A., direkt in das Raster. A. wurde schon mehrmals auf diskriminierende Art und Weise aufgefordert, seine deutsche Staatsbürgerschaft zu beweisen, so auch wieder am 3. Dez. 2010.
Um was ging es?
Am 3. Dezember 2010 kam es in einem Regionalzug der Deutschen Bahn zwischen Frankfurt a. M. und Kassel zu einer seitens zweier Polizisten äußerst aggressiven, erniedrigenden und rassistischen Personenidentifikationskrontrolle eines Studenten auf Grund seiner dunklen Hautfarbe.
Die Polizisten beantworteten dessen Fragen nach dem Grund dieser Maßnahme nicht. Da sich der Student dieser rassistischen Diskriminierung nicht beugen wollte, verweigerte er das Vorzeigen seines Personalausweises. Die Polizisten wurden daraufhin äußerlich aggressiv gegenüber ihm und den Personen, die sich in die lautstarke Situation einmischten. Sie duzten den Mann, gingen ihn körperlich an, zwangen ihn aus dem Zug auszusteigen, versuchten ihm sein Handy zu entreißen, verweigerten die Nennung ihrer Namen und Dienstnummern und entfernten sich das Namensschild von der Uniform. Mitreisende, die sich einmischten bekamen „Halt’s Maul!“ zu hören, dem jungen Mann sagten sie: „Du hast hier überhaupt keine Rechte!“.
Zuvor hatte A. im Zug geäußert, das Vorgehen der Polizisten erinnere ihn an damals. Ein Polizist fragte nach, was denn damals gewesen sei, er entgegnete: die SS-Zeit.
Wegen dieser Aussage wurde ER nun verurteilt, nicht etwa die Polizisten wegen ihres beleidigenden, erniedrigenden und rassistischen Verhaltens.
Wie verlief der Prozess?
Der Prozess fand am 30.06. und 12.07.11 im Amtsgericht Kassel statt, da Polizist M. gegen A. Anzeige wegen Beleidigung erstattet hatte.
Die Vermutung liegt nahe, dass M. durch diese Anzeige nicht nur sein unkorrektes, schikanöses Verhalten legitimieren wollte, sondern A. auch beweisen wollte wer der Stärkere ist und er sich zu beugen hätte.
M. leugnete nicht, dass er die Identifikationskontrolle des Manns auf Grund seiner Hautfarbe, die anders als „mitteleuropäisch“ sei, durchführen wollte. Schließlich sei es ihm um „die Verhinderung illegaler Einreise“ gegangen, bei der er sich an ein „Schema“ halte. Menschen, die ausländisch erscheinen, würden in dieses Schema fallen, worauf die „Hautfarbe“, das
„Reisegepäck“, das „Erscheinungsbild“ und ob es sich um „Alleinreisende“ handle, hindeute. Jedoch sei die rechtliche Grundlage dieser Identifikationskontrolle eine „allgemeine Verfügung“ gewesen, die bestanden habe, da es zu dieser Zeit „Anschlags- und Terrordrohungen“ gegeben hätte.
Er gab somit die Rechtswidrichkeit der Kontrolle zu, da die rechtliche Grundlage eine andere gewesen sei, als der eigentliche Grund der Kontrolle.
M. machte, mit Aussagen wie: „ich hätte ihm auch die Hände auf dem Rücken verdrehen können“ deutlich, dass es ihm um Respekt gegangen sei, dass der Angeklagte seine Autorität hätte akzeptieren müssen und nicht ihre Maßnahme in Frage hätte stellen dürfen. M's Respektlosigkeit gegenüber dem Angeklagten und den anderen Mitreisenden (im Alter zwischen 26 und 28 Jahren), die sich in die lautstarke Situation einmischten, wurde u. a. daran deutlich, da er diese vor Gericht durchgehend als „Jugendliche“ bezeichnete, welche Bezeichnung jedoch nicht seitens des Gerichts thematisiert wurden.
In seiner Vernehmung zeigte er z. T. nicht nur seine rassistische Grundeinstellung, auch sein unkontrollierbares Aggressivitätspotential enthielt er dem Gericht nicht vor. Zu der Anschuldigung [Richter W. zitierte aus einer schriftlichen Anzeige einer Zeugin, die jedoch fallen gelassen wurde] dass ein Polizist „Halts Maul!“ zu einer Mitreisenden geäußert haben soll, meinte M.: „ich habe nur versucht mich so einfach wie möglich auszudrücken“. Außerdem seinen es -10°C am Bahnsteig [die Polizisten hatten den Angeklagten zum Aussteigen in Treysa gezwungen] gewesen und der Angeklagte habe am Bahnsteig „angefangen zu weinen, in diesen Moment kann es sein, dass ich ihn geduzt habe“. Aber dies habe er aus rein „psychologischen Gründen“ getan, um ihn zu beruhigen, er selbst habe schließlich schon 30 Jahre Diensterfahrung.
Der weitere Prozess wurde auf den 12.07.11 vertagt.
An diesem zweiten Prozesstermin wurden vier weitere Zeug_innen vernommen. Zuerst wurde der Polizist C., der mit M. im Zug auf Streife gewesen war befragt und im Anschluss drei Personen, die die Situation im Zug oder am Bahnsteig in Treysa mitbekommen hatten.
C. wirkte während der gesamten Vernehmung sehr verunsichert und beeinflussbar, die Fragenden merkten, dass sie ihm nur öfter mit Nachdruck die gleiche Frage stellen brauchten, um unterschiedliche Antworten zu bekommen.
Im Gegensatz zu M'sAussage bestritt er jedoch, dass sie den Angeklagten auf Grund seiner Hautfarbe kontrolliert hätten. Als Richter W. ihm nach dem Schema, welches M. erläutert hatte fragte, sagte er, dass es keine Richtlinien gäbe und die Entscheidungen darüber wer kontrolliert würde „aus dem Bauch raus“ getroffen würden. Auch im Widerspruch zu M's Aussage behauptete er, er habe nicht mitbekommen, dass M. den Angeklagten geduzt habe. Des Weiteren sagte er aus, der Zugbegleiter hätte sich die Fahrkarte des Angeklagten zeigen lassen, sein Kollege M. hatte hingegen behauptet er hätte den Fahrausweis selbst kontrolliert.
Auch wies sein schriftlicher Polizeibericht Unstimmigkeiten bezüglich des Abspeicherungsdatums auf. Er konnte bzw. wollte dies nicht erklären und sagte auf Nachfrage nur, dass jemand etwas nachträglich geändert haben müsse. Er könne sich nicht erinnern, aber es könne sein, dass er zum Beispiel Rechtschreibfehler im Nachhinein korrigiert habe.
Primär ging es dem Gericht in seiner Vernehmung und in der Vernehmung der weiteren Zeugen, um die Wortwahl des Angeklagte, ob er die Polizisten direkt mit „Ihr seit wie die SS“ oder indirekt „Das erinnert mich an SS-Methoden“ beleidigt habe.
Im direkten Anschluss wurden zwei weitere Zeug_innen vernommen, die die Situation im Zug mitbekommen hatten. Sie sprachen das unverhältnismäßige, aggressive Verhalten von M. und die Teilnahmslosigkeit Cs an. Ein Zeuge sagte aus, M. hätte nach dem Ausspruch des Angeklagten: „das sind SS-Methoden“ zufrieden/genugtuend gewirkt und hätte gesagt: „Jetzt wird’s teuer!“ Im Übrigen sei dieser Ausspruch als Reaktion auf die Durchsuchung seines Rucksacks erfolgt.
Die andere Zeugin sagte, nachdem der Angeklagte gesagt hatte: „Das erinnere ihn an damals“ habe M. provozierend nachgefragt: „An was damals?“, „an das dritte Reich“ hätte der Angeklagte geantwortet, woraufhin M. erneut nachfragte: „Wollen Sie damit sagen, dass ich ein Nazi bin?“, der Angeklagte diese Frage deutlich mit „nein! Das wollte ich damit nicht sagen“ beantwortete.
Beide Zeugen sagten aus, dies sei an seinem Sitzplatz geschehen und widersprachen somit C., der behauptet hatte, dieser beleidigende Ausspruch sei während dem Durchlaufen des Zuges gefallen.
Nach deren Vernehmung unterbreitete der Staatsanwalt dem Angeklagten den Vorschlag, das Verfahren nach § 153 zu beenden, welches der Angeklagte, nach einer Besprechung mit seinem Anwalt, ablehnte. Für deren Absprache wurde der Prozess für kurze Zeit unterbrochen und der Staatsanwalt nutzte diese Zeit, um den anwesenden Zuschauern erneut seine Sicht der Dinge [er hätte diese Sache nicht zur Anzeige gebracht u. ä.] darzustellen und Fragen aus dem Publikum zu beantworten.
Daraufhin wurde die dritte Zeugin angehört, die noch einen dritten Polizisten erwähnte, der am Bahnhof in Treysa mitgewirkt hatte und erneut die ausfallende Art M's betonte. Sie hätte vom anderen Bahnsteig aus hören können, wie M. den Angeklagte mit den Worten: „du hast hier gar keine Rechte!“ und „du kannst mich mal!“ angebrüllt habe.
Nach der Vernehmung der Zeug_innen stellte der Anwalt des Angeklagten einen Antrag auf die Erhebung von neuem Beweismaterial, das die zuerst –vor einer Überarbeitung- verfasste Version des Polizeiprotokolls von C. zeigen sollte.
Richter W kündigte daraufhin eine Unterbrechung der Verhandlung von 15-20 Min. an, um sich zu überlegen, ob er diesen stattgebe. Tatsächlich tauchte er erst 35 min. später wieder auf und verkündete die Ablehnung des Beweisantrags, da er keinen Anlass sähe den Polizisten C. eine Lüge zu unterstellen.
Die Verhandlung wurde geschlossen und der Staatsanwalt hielt sein Plädoyer.
Er bezeichnete das Verhalten des Angeklagten, aber auch das Vorgehen der Polizisten als „unwirsches Verhalten“. Diese hätten ihn „natürlich wegen seiner Hautfarbe angesprochen“. Der Vergleich mit SS-Methoden sei jedoch zu weit gegangen, es sei beleidigend gewesen. Allerdings könne er sich vorstellen, dass die „Polizisten auf einen Aufhänger gewartet haben“, der Angeklagte sei ihnen „in die Falle, ins Messer gelaufen“. Mit Kontrollen müsse der Angeklagte immer rechnen, dass sei schließlich zu unserer aller Sicherheit. Er beantragte eine Geldstrafe von 15 Tagessätzen zu je 10€.
Der Anwalt des Angeklagten betonte in seinem Plädoyer erneut, dass es sich um keine rechtmäßige Personalienkontrolle gehandelt habe. Er sagte, dass der Ausspruch des Angeklagten nicht in Ordnung gewesen sei, jedoch im Zusammenhang gesehen und bewertet werden müsse. Er berief sich auf das Verhältnismäßigkeitsprinzip, da es eine rassistisch motivierte Kontrolle gewesen sei, die evtl. sogar grundrechtswidrig sei, und auf die Wahrnehmung berechtigter Interessen. Die Polizisten ihre Macht missbraucht, und die Situation somit zu einer menschlichen Tragödie gemacht hätten.
Richter W. kündigte eine erneute Unterbrechung der Verhandlung für 15 Min. an. 15 Min. später hatten sich alle Beteiligten und Zuschauer erneut im Gericht eingefunden, bis auf den Staatsanwalt, dieser nahm sich noch eine 10 Min. längere Pause.
Richter W. sprach sein Urteil:
Der Angeklagte ist wegen vorsätzlicher Beleidigung für schuldig befunden, denn er halte es für bewiesen, dass er „dass ist wie in der SS-Zeit“ gesagt habe. Dies sei „kränkend für die Beamten“ gewesen. Dazu sei es ihm egal, ob die Identitätskontrolle rechtmäßig gewesen sei, oder nicht. Er glaube, die Polizeibeamten hätten sich überspitzt verhalten, jedoch sei keine Beleidigung von den Beamten ausgegangen. Richter W sagte zu dem Angeklagten, dass er „glaube, dass Sie hier ganz normal leben“, deshalb sei die Geldstrafe (15 Tagessätze zu je 10€) vorbehalten und auf ein Jahr zur Bewährung ausgesetzt. Außerdem habe er die Verfahrenskosten zu tragen.