Im Hamburger Gängeviertel wollen KünstlerInnen, HandwerkerInnen und andere Menschen die Idee eines möglichst hierarchiefreien städtischen Zusammenlebens verwirklichen. Was vor exakt zwei Jahren mit einer Besetzung begann, nimmt mittlerweile Form an.
HAMBURG taz | Günther hat schon Feierabend, aber er sitzt immer noch vor seiner Fahrradwerkstatt und schaut zu, wie zwei Selbstschrauber versuchen, aus zwei alten Rädern ein neues zu bauen. "Ich bin müde, ich mache heute nix mehr", sagt Günther. Ein Feierabendbier hätte er noch gerne. "Ist die Bar schon auf?" Günther geht an der historischen Häuserfassade entlang ans Eck.
Die Bar ist auf, das Projekt "Möglichkeitsräume" trifft sich jeden Montag ab 18 Uhr. Behinderte und Nicht-Behinderte Menschen sitzen um ein paar Tische und unterhalten sich. Später wird gemeinsam gemalt. Die Alterspanne reicht von unter 20 bis 47, und Niklas, der zu den Jungen gehört, sagt: "Ich hätte mal Bock auf ein Gemeinschaftsbild." Die Szene wirkt, als wäre sie aus einem Bilderbuch für soziale Utopien, aber sie ist wahr. Stattgefunden hat sie im August 2011 im Hamburger Gängeviertel.
Das "Gängeviertel" wird am kommenden Montag zwei Jahre alt und am Wochenende darauf wird in dem historischen Quartier öffentlich Geburtstag gefeiert, erwartet werden mehrere tausend Menschen. Die Gäste können in den historischen, zum Teil sehr mitgenommenen Häusern Ausstellungen und Konzerte besuchen, sie können in einer Art Hängematten-Oase Bier trinken und überall trashig bunte Skulpturen begutachten. Das Kulturprogramm wird umfangreich sein. Noch wird daran gebastelt.
Hinter den Kulissen ist das große Thema, wie es weitergeht in den Verhandlungen mit der Stadt. Es ist die ewige Frage, seit am 22. August 2009 rund 200 KünstlerInnen das so historische wie verkommene Quartier in unmittelbarer Nähe des Gänsemarktes besetzten.
Das Ziel war zunächst, das Viertel vor dem geplanten Abriss zu bewahren. Das Gängeviertel gehörte damals dem niederländischen Investor Hanzevast, der das Quartier der Stadt abgekauft hatte. Die Künstler schafften es, die Stadt zum Rückkauf zu bewegen. Das geschah Ende 2009 und war aus Sicht der Künstler der erste Schritt. Der zweite sollte sein, im Gängeviertel ein von den Künstlern erstelltes Nutzungskonzept zu realisieren. Um das wird seit Frühjahr 2010 gerungen.
Zäh sind die Verhandlungen auch deswegen, weil es beim Gängeviertel-Projekt nicht nur um Grundstücke und Häuser geht, sondern um eine Idee. Die Idee hat visionären Charakter, vielleicht ist auch manches an ihr utopisch, das weiß man noch nicht genau. Auf jeden Fall ist es eine Idee, von der diejenigen, die sie hatten, so überzeugt sind, dass sie bereit sind, dafür zu kämpfen. Es geht um die Art und Weise urbanen Zusammenlebens. "Wir wollen vor dem Hintergrund der Vergangenheit in der Gegenwart etwas gestalten, das in die Zukunft geht", sagt Bildhauerin Marion Walter.
Das Konzept des Gängeviertel-Vereins will ein Nebeneinander von Leben und Arbeit. Es sollen nicht nur KünstlerInnen im Gängeviertel leben, sondern auch HandwerkerInnen und sozial an den Rand gedrängte Menschen.
Es soll eine prinzipielle Offenheit für alle herrschen. Milieus und Altersstufen sollen sich vermischen, es sollen Räume für soziokulturelle Projekte zur Verfügung stehen und Räume für Gewerbetreibende wie den Lebensmittelhändler, die Fahrradwerkstatt, die Elektrowerkstatt. Wirtschaftlich starke Nutzer sollen die schwachen Nutzer quer finanzieren. Das gemeinschaftliche Moment soll wesentlich sein und die Hierarchien so flach wie möglich.
Für die Behörden ist der Umgang mit dem Gängeviertel-Konzept schwierig. "Das Gängeviertel-Projekt ist kein reines Wohnprojekt, kein reines Kulturprojekt, kein reines Soziokulturprojekt und auch nicht nur eine Kneipe. Es ist ein interdisziplinäres Projekt. Man kann das Quartier nur als Ganzes begreifen", sagt Architekt Heiko Donsbach, der zu der Gruppe gehört, die mit der Stadt verhandelt.
Ging es nach dem Gängeviertel-Verein, dann sollte die Sanierung im Dialog mit dem Verein dem Nutzungskonzept gemäß erfolgen und Haus für Haus nach und nach in die Verwaltung der Gängeviertel-Genossenschaft übergehen. Die Stadt dagegen will sich bei der Sanierung nicht dreinreden lassen und die Gängeviertel-Genossenschaft erst dann mit der Verwaltung betrauen, wenn das gesamte Quartier saniert ist. Keineswegs will der Gängeviertel-Verein Eigentümer des Quartiers werden - ihm geht es um die Verwaltung bei "eigentumsähnlichen Rechten wie einer Erbpacht", sagt Donsbach.
Bemerkenswert ist, dass sich die Stadt überhaupt auf die Idee der Selbstverwaltung eingelassen hat - offenbar ist jetzt nur noch der Zeitpunkt strittig.
Unter der schwarz-grünen Vorgänger-Regierung wurde die Selbstverwaltung noch ausgeschlossen. Es liege "ein unterschriftsreifer Vertrag auf dem Tisch", sagt Frank Krippner von der Stadtentwicklungsbehörde. Der Senat würde das Gebiet gerne bei seiner Sitzung am 8. September als Sanierungsgebiet festlegen. "Wir versuchen, den Termin zu halten."
Ob man sich einigen können wird, ist "keineswegs safe", sagte Donsbach. Sicher ist aber, dass im Viertel selbst rund 130 Menschen bereits dabei sind, ihre Vision vom guten (Zusammen-)Leben zu realisieren. Eine Küche ist eingerichtet, es wird jeden Abend gekocht und alle dürfen mitessen.
Nebenan hat eine Selbstversorger-Kooperation einen Bioladen eingerichtet, mit Produkten aus der Region. In der Elektrowerkstatt bastelt der französische Kunststudent Olivier Klanginstallationen aus alten Kassettenrekordern und Druckern. Vor der Fahrradwerkstatt sitzt Schrauber Günther, er hat sich das Bier aus der Bar nur geholt, um es in der Abendsonne zu trinken.
Anderntags steht Jonas am Tresen der Yupi-Bar, die Veranstaltung "Sketch Corner" hat gerade begonnen. Was genau Inhalt der Veranstaltung ist, entwickelt sich gerade noch - an jenem Abend lässt man sich gemeinsam von trashigen Comics auf VHS-Videoband inspirieren.
Bisher, erzählt Jonas, habe man beispielsweise gemeinsam Werbeplakate für den Abend gemacht, die wurden weitergegeben und von allen gestaltet. "Der Inhalt des Abends war, Werbung für den Abend zu machen", sagt er.
Beim Gängeviertel-Projekt war Jonas von Anfang an dabei, machte aber zwischendurch auch mal eine Pause, um wieder Kräfte zu sammeln. Bei den Verhandlungen mit der Stadt ist er nicht beteiligt, aber den Stand kennt er natürlich auch. "Wenn die Arbeit der Initiative torpediert wird, dann wird das Projekt zerfallen", sagt er. "Weil alle im Viertel den Gedanken des Projektes teilen."