Raus aus der Wagenburg

Erstveröffentlicht: 
05.08.2011

Wie viele Freiräume braucht die Gesellschaft?

Von Thomas Hauser

Wie viel Egoismus muss sich eine Gesellschaft gefallen lassen? Diese Frage mag manchem angesichts der Diskussion um die Freiburger Wagenburg "Kommando Rhino" und deren gewaltsames Ende durch den Kopf gegangen sein. Positiver formuliert: Wie viele Freiräume für abweichende Lebensentwürfe muss eine liberale Gesellschaft lassen?


Im vorliegenden Fall haben vermummte Randalierer mit massiver Gewalt diese Diskussion beendet. Eine Gesellschaft, die tolerierte, dass das Gewaltmonopol des Staates in Frage gestellt wird, sie würde sich selbst in Frage stellen. Gegen Gewalt darf es in einem Rechtsstaat keine Toleranz geben.


Denkt man darüber nach, warum Fälle, in denen meist junge Menschen die Gesellschaft herauszufordern suchen, oft in Gewalt enden, stößt man freilich eher auf die Frage nach den Reibungsräumen. Es geht meist nicht darum, für sich einen von der Mehrheit abweichenden Lebensentwurf zu praktizieren. Dafür könnte man sich ein einsames Fleckchen suchen. Aber das wäre langweilig. Man will auffallen und provozieren. Der Gesellschaft soll demonstriert werden, dass sie spießig ist und intolerant. Dass sich hinter dieser Provokation eine Anmaßung versteckt, ist Programm. Man hält sich für etwas Besseres. Im Fall der Wagenburg im Vauban ist die Botschaft besonders pikant. Die Provokation fand ausgerechnet dort statt, wo die Umweltschützer und Hausbesetzer der siebziger und achtziger Jahre ihren einst alternativen Lebensentwurf kultiviert haben. So ändern sich die Rollen.

Interessant ist auch, dass die als kollektivistisch daherkommenden Projekte oft stark egoistische Züge haben, vor allem aber ein tiefes Misstrauen gegenüber dem Staat. Sie sind, zumindest in ihrer Außenbeziehung, häufig undemokratisch, weil elitär. Dass Freiheit die Freiheit der Andersdenkenden sei, reklamieren sie vor allem für sich selbst. Dass sich die Mehrheitsgesellschaft ungern in ihren Gewohnheiten und Ritualen stören lässt, mag andererseits begründen, warum es der Provokation bedarf, wenn man Veränderungen will. Und manches, was sich im Nachhinein als gesellschaftlicher Fortschritt entpuppte, wurde anfangs als drohender Untergang des Abendlandes bekämpft. Doch nicht alles, was renitent daherkommt, muss deshalb ein Fortschritt sein.

Demokratie ist das Ringen um Mehrheiten. Der Philosoph Karl Popper hat seinen kritischen Rationalismus als Lebenseinstellung charakterisiert, die zugibt, dass ich mich irren kann, dass du recht haben kannst und dass wir zusammen vielleicht der Wahrheit auf die Spur kommen können. Freiheitliche Gesellschaften müssen deshalb immer auch Freiräume für Minderheiten lassen. Aber dieser Freiraum ist begrenzt durch die Freiheit der anderen. Da diese Grenzen nicht permanent und individuell ausgehandelt werden können, bedarf es einer von der Gemeinschaft legitimierten und kontrollierten Macht: des Staates.

Den kann man herausfordern, dessen Regeln kann man hinterfragen. So man eine Mehrheit hinter sich versammelt, kann man sie auch verändern. Wer sich diesem mühsamen Prozess entziehen und Fakten schaffen will, darf sich nicht darüber beschweren, wenn die Mehrheit in Form von Staat und Gesellschaft dieses sanktioniert. Das ist keine Repression, sondern die Herrschaft des Rechts und rechtfertigt damit gewiss keinen Widerstand. Vor allem dann nicht, wenn — wie im Falle Vauban — die Stadt nun wirklich mit einer Eselsgeduld eine offensichtliche Missachtung geltenden Rechts tolerierte. Dass nun trotzdem Legenden gestrickt werden, hat einen schlichten Grund: Wer vor der Gewalt der Macht kapitulieren muss, kann sich selbst zum Märtyrer verklären. Wer sich eingestehen muss, dass die eigene Idee nicht überzeugen konnte, muss einen Irrweg oder eine Niederlage einräumen.