Wie viele Freiräume braucht die Gesellschaft?
Von Thomas Hauser
Wie viel Egoismus muss sich eine Gesellschaft gefallen lassen? Diese
Frage mag manchem angesichts der Diskussion um die Freiburger Wagenburg
"Kommando Rhino" und deren gewaltsames Ende durch den Kopf gegangen
sein. Positiver formuliert: Wie viele Freiräume für abweichende
Lebensentwürfe muss eine liberale Gesellschaft lassen?
Im
vorliegenden Fall haben vermummte Randalierer mit massiver Gewalt diese
Diskussion beendet. Eine Gesellschaft, die tolerierte, dass das
Gewaltmonopol des Staates in Frage gestellt wird, sie würde sich selbst
in Frage stellen. Gegen Gewalt darf es in einem Rechtsstaat keine
Toleranz geben.
Denkt man darüber nach,
warum Fälle, in denen meist junge Menschen die Gesellschaft
herauszufordern suchen, oft in Gewalt enden, stößt man freilich eher auf
die Frage nach den Reibungsräumen. Es geht meist nicht darum, für sich
einen von der Mehrheit abweichenden Lebensentwurf zu praktizieren. Dafür
könnte man sich ein einsames Fleckchen suchen. Aber das wäre
langweilig. Man will auffallen und provozieren. Der Gesellschaft soll
demonstriert werden, dass sie spießig ist und intolerant. Dass sich
hinter dieser Provokation eine Anmaßung versteckt, ist Programm. Man
hält sich für etwas Besseres. Im Fall der Wagenburg im Vauban ist die
Botschaft besonders pikant. Die Provokation fand ausgerechnet dort
statt, wo die Umweltschützer und Hausbesetzer der siebziger und
achtziger Jahre ihren einst alternativen Lebensentwurf kultiviert haben.
So ändern sich die Rollen.
Interessant
ist auch, dass die als kollektivistisch daherkommenden Projekte oft
stark egoistische Züge haben, vor allem aber ein tiefes Misstrauen
gegenüber dem Staat. Sie sind, zumindest in ihrer Außenbeziehung, häufig
undemokratisch, weil elitär. Dass Freiheit die Freiheit der
Andersdenkenden sei, reklamieren sie vor allem für sich selbst. Dass
sich die Mehrheitsgesellschaft ungern in ihren Gewohnheiten und Ritualen
stören lässt, mag andererseits begründen, warum es der Provokation
bedarf, wenn man Veränderungen will. Und manches, was sich im Nachhinein
als gesellschaftlicher Fortschritt entpuppte, wurde anfangs als
drohender Untergang des Abendlandes bekämpft. Doch nicht alles, was
renitent daherkommt, muss deshalb ein Fortschritt sein.
Demokratie
ist das Ringen um Mehrheiten. Der Philosoph Karl Popper hat seinen
kritischen Rationalismus als Lebenseinstellung charakterisiert, die
zugibt, dass ich mich irren kann, dass du recht haben kannst und dass
wir zusammen vielleicht der Wahrheit auf die Spur kommen können.
Freiheitliche Gesellschaften müssen deshalb immer auch Freiräume für
Minderheiten lassen. Aber dieser Freiraum ist begrenzt durch die
Freiheit der anderen. Da diese Grenzen nicht permanent und individuell
ausgehandelt werden können, bedarf es einer von der Gemeinschaft
legitimierten und kontrollierten Macht: des Staates.
Den
kann man herausfordern, dessen Regeln kann man hinterfragen. So man
eine Mehrheit hinter sich versammelt, kann man sie auch verändern. Wer
sich diesem mühsamen Prozess entziehen und Fakten schaffen will, darf
sich nicht darüber beschweren, wenn die Mehrheit in Form von Staat und
Gesellschaft dieses sanktioniert. Das ist keine Repression, sondern die
Herrschaft des Rechts und rechtfertigt damit gewiss keinen Widerstand.
Vor allem dann nicht, wenn — wie im Falle Vauban — die Stadt nun
wirklich mit einer Eselsgeduld eine offensichtliche Missachtung
geltenden Rechts tolerierte. Dass nun trotzdem Legenden gestrickt
werden, hat einen schlichten Grund: Wer vor der Gewalt der Macht
kapitulieren muss, kann sich selbst zum Märtyrer verklären. Wer sich
eingestehen muss, dass die eigene Idee nicht überzeugen konnte, muss
einen Irrweg oder eine Niederlage einräumen.