Bewegung ist ein kollektives Gedächtnis
10 Jahre G8-Gipfel in Genua, 10 Jahre staatlicher Mord an Carlo Giuliani
Carlo vive! Die Revolte geht weiter!
Vor 10 Jahren, vom 19. bis zum 21. Juli 2001, gingen hunderttausende Menschen in Genua gegen den G8-Weltwirtschaftsgipfel – das Treffen der Regierungschefs der reichsten und mächtigsten Staaten – auf die Straße. Am 20. Juli 2001 wurde unser Genosse Carlo Giuliani am Rande einer Demo Richtung G8-Tagungsort, die von heftigen Polizeiangriffen, aber auch von massenhafter militanter Gegenwehr begleitet war, von einem Wehrdienstleistenden der Carrabinieri-Militärpolizei aus einem Jeep heraus erschossen. 10 Jahre Massenprotest und Revolte gegen die G8 in Genua, 10 Jahre staatlicher Mord an Carlo – für uns ein Grund zur Rückschau, ein Grund zur Trauer, aber auch ein Grund zum Blick nach vorn im Zorn.
Genua 2001: Summer of Resistance...
Genua war die größte Massendemonstration in Europa gegen die durch den G8-Gipfel repräsentierte herrschende kapitalistische Weltordnung seit dem Niedergang des Ostblocks 1989. Genua war alles andere als nur symbolischer Protest – viele waren entschlossen, die hermetisch abgeriegelte „Rote Zone“ um den G8-Tagungsort zu überwinden, mit Mitteln, die von Taktiken des gewaltfreien zivilen Ungehorsams bis zu militanten Angriffen auf Sperrzäune, Polizeikordons und Symbole des kapitalistischen Reichtums reichten. Genua war Ausdruck einer Bewegung, die sich nicht nach den Spielregeln kontrollierter und eingehegter politischer Repräsentation richtete. Menschen mit zum Teil sehr unterschiedlicher Motivation und politischer Zugehörigkeit nahmen sich für drei Tage die Straßen zurück. Innerhalb von Europa war Genua der Höhepunkt des Widerstands gegen die Gipfeltreffen der Akteur_innen kapitalistischer Globalisierung und auch ein seitdem nie mehr erreichter Moment des Zusammenkommens und der gemeinsamen Stärke von Aktiven verschiedener linker und sozialer Bewegungen: Autonome und Radikalpazifist_innen, Basisgewerkschafter_innen und migrantische Gruppen, Feministinnen und Leute aus Befreiungsbewegungen des globalen Südens, Queers, Kommunistische Parteien und Jugendorganisationen, Anarchist_innen, Öko-Aktivist_innen und viele, viele Unorganisierte und Leute, die zum ersten mal in ihrem Leben auf einer größeren Demo waren. Der Summer of Resistance 2001 war Teil einer weltweiten Bewegung, die, ausgehend vom 1994 begonnenen Aufstand der Zapatist_innen in Mexico, die Hegemonie und Deutungshoheit des neoliberalen Kapitalismus mit all seinen Folgen der Verarmung, Zerstörung und kriegerischen Gewalt praktisch in Frage stellte. Genua war, ebenso wie zuvor die Mobilisierungen gegen die WTO (World Trade Organisation) – Konferenz in Seattle 1999, gegen den IWF/Weltbankgipfel in Prag 2000 und das Aufbegehren insbesondere an vielen Orten des Globalen Südens, eine wütende und entschlossene Absage an die anmaßende Behauptung vom Ende der Geschichte, vom vermeintlich grenzenlosen Siegeszug des Kapitalismus.
... und staatlicher Terror
Die Repressionsorgane des italienischen Staates, unterstützt von Polizeikräften ihrer EU-Partner, beantworteten das massenhafte Aufbegehren mit einem Ausmaß an Polizeibrutalität und Kriminalisierung, wie es die meisten Aktivist_innen in Europa bis dahin nicht gekannt hatten: Die Stadt Genua wurde tagelang in polizeilichen Ausnahme- und Belagerungszustand versetzt. Protestierer_innen wurden auf der Straße brutal zusammengeknüppelt, Demozüge wurden mit Unmengen an Tränengas und in die Menge fahrenden Polizeiautos und Räumfahrzeugen auseinandergetrieben, an mehreren Stellen wurde von Polizist_innen und Carrabinieri scharf geschossen – bis hin zu den Todesschüssen auf Carlo. Bei der Räumung des Schlafquartiers in der Diaz-Schule fiel ein brutal um sich schlagendes Polizei-Überfallkommando über schlafende Menschen her. Verletzte Demonstrant_innen wurden aus Krankenhäusern heraus verschleppt. Hunderte Gefangene wurden tagelang in der Polizeikaserne von Bolzaneto grausam gedemütigt und gefoltert und gezwungen, faschistische Kampflieder und Schmähungen über sich ergehen zu lassen. Während der Mörder von Carlo Giuliani und die Folterer aus der Bolzaneto-Kaserne bislang straffrei blieben, wurden einige Aktivist_innen wegen (angeblicher) Beteiligung an militanten Aktionen und Auseinandersetzungen zu Haftstrafen von bis zu 11 Jahren verurteilt und es wurde versucht, aus dem „Black Block“ eine Art von „terroristischer Vereinigung“ zu konstruieren. Das heftige Ausmaß der Repression ist auf der einen Seite eine Folge davon, dass in Genua eine rechte bis rechtsextreme Regierung und ein von faschistischen Elementen durchsetzter Polizeiapparat mit offenem Terror ihre Macht demonstriert und Abrechnung mit den ihnen verhaßten linken Bewegungen praktiziert haben. Gleichzeitig war deren Vorgehen gedeckt und aktiv unterstützt im Rahmen einer europäischen Polizeistrategie, für die das massenhafte und häufig militante Aufbegehren gegen die Gipfeltreffen der Mächtigen als zu kontrollierendes Sicherheitsrisiko gilt.
Von München nach Genua und zurück
Auch aus der Münchner Linken hat die Dynamik der Gipfelproteste wohl mehrere hunder Leute nach Genua mobilisiert. Genua hat so manche ehemals Engagierte aus ihrem Winterschlaf hervorgelockt und gleichzeitig haben viele junge Aktivist_innen hier einschneidende und prägende Erfahrungen gemacht. Einschneidend und prägend war vieles im Guten wie im Schlimmen: Die Aufbruchsstimmung und die Momente der Stärke, Solidarität und Militanz einer großen, internationalen und nicht leicht zu kontrollierenden Bewegung ebenso wie das Ausgeliefertsein in einer belagerten Stadt, wie die hektische Flucht aus Genua vor den Schergen eines völlig hohldrehenden und brutalisierten Polizeiapparates. Einige kamen aus Genua zurück mit schweren Verletzungen, die ihnen bei der Räumung der Diaz-Schule oder in der Folterkaserene in Bolzaneto zugefügt wurden und bei so manchen hat die direkte Konfrontation mit einer Staatsgewalt, die im wahrsten Sinne des Wortes über Leichen geht, langfristige Traumata hinterlassen. In München selbst hat die Genua-Mobilisierung für so manche Projekte und Kampagnen der Linken einen wesentlichen Schub gegeben: Münchner Rechtshilfestrukturen haben nach den ersten Meldungen von den Massenverhaftungen und Folterungen unschätzbaren Support für die Gefangenen geleistet. Sie haben dazu beigetragen, dass viele der polizeilichen Menschenrechtsverletzungen überhaupt an die Öffentlichkeit gekommen sind und damit auch ein Gegengewicht zur medialen Kriminalisierungs- und Hetzkampagne geschaffen. Insbesondere die ab 2001 im großen Stil gestartete Kampagne gegen die Münchner NATO-Sicherheitskonferenz war eine Konsequenz aus Genua. „Von Genua nach München“ war die Losung, mit der wir gegen die SIKO mobilisiert haben, getragen von dem Ziel, gemeinsam mit der kapitalistischen Weltordnung auch deren gewaltsame und kriegerische Durchsetzung zum Fokus für unseren Protest und Widerstand zu machen.
Was bleibt und wie geht’s weiter?
Der Widerstand gegen die Zusammenkünfte der führenden Akteur_innen hat nicht mit Genua begonnen und war mit Genua nicht vorbei. An vielen Orten auf der Welt – in Cancun/Mexico, in Quebec/Kanada, in Evian/Frankreich und nicht zuletzt beim G8 2007 in Heiligendamm - haben sich in den Jahren danach jedesmal zehntausende gegen G8, IWF/Weltbank und WTO mobilisiert. Vieles an Strukturen, Aktionsformen und Protestkulturen, auf die wir heute als linke Aktivist_innen zurückgreifen - Indymedia, Pink and Silver, White Overalls ... - wurde im Rahmen der Gipfelstürme hervorgebracht. Speziell für die Bewegungen in Europa markierte Genua sowohl einen Höhepunkt als auch eine Grenze: Während sich viele mit Genua politisiert haben, zogen sich so manche andere vor dem Hintergrund der traumatisierenden Erfahrungen mit Verfolgung und Polizeigewalt zurück. Insbesondere die italienischen linken Bewegungen wurden durch die Repressionsschläge und leider auch durch Spaltungen und Distanzierungen, die durch den äußeren Druck begünstigt waren, stark geschwächt.
Es macht wütend, dass bis heute in Italien Aktivist_innen in Folge der Revolte von Genua im Knast sitzen – wir, die wir in Genua waren, haben es nicht geschafft, diese Gefangenen dem Vergessen zu entreißen und lautstark ihre Freilassung einzufordern. Abgesehen von solchen Erfahrungen war für viele das Gipfelhopping ohne ausreichende Anbindung an den Alltag und die soziale Frage unter kapitalistischen Verhältnissen zunehmend unbefriedgend.
Eine wesentliche Sache, die von Genua bleibt, war, dass wir es geschafft haben, auch in die breitere Öffentlichkeit hinein die Legitimität der neoliberal ausgerichteten kapitalistischen Weltordnung und ihrer Fortschritts-, Entwicklungs- und Zukunftsmodelle sichtbar in Frage zu stellen. Insbesondere die ökonomischen und ökologischen Krisenentwicklungen der letzten Jahre und die direkte Erfahrung, für diese Krisen zahlen zu müssen, haben auch in den reichen Industriestaaten viele Menschen schmerzlich damit konfrontiert, dass Kapitalismus für den Großteil der Menschheit alles andere bedeutet, als Wohlstand und Glück. Gerade die Aufbrüche und Revolten der jüngsten Zeit, die in verschiedenen Ländern auf dem afrikanischen Kontinent und im nahen und mittleren Osten, aber auch in Südeuropa, grundlegende Fragen von Freiheit, Autonomie, Gerechtigkeit und Wohlstandsverteilung neu definiert und auf die Tagesordnung gesetzt haben, stellen uns vor Herausforderungen: Wie können wir unseren Widerstand gleichzeitig global und in unserem unmittelbaren Alltag verankern? Welche praktischen und solidarischen, im besten Sinne internationalistischen, Verknüpfungen zwischen den weltweiten Kämpfen und Revolten können wir herstellen – in dem Sinne, dass wir uns in unseren Revolten gegen die herrschenden Verhältnisse gegenseitig wiedererkennen?
The future is unwritten – für die weltweite soziale Revolution!
Für die Freilassung der noch einsitzenden G8-Gefangenen!
Keine Ruhe für den Mörder von Carlo Giuliani, für die Folterer von Bolzaneto und alle Täter im Polizeidienst!
http://www.gipfelsoli.org//Home/Genova_2001/
http://www.autistici.org/g8/deu/siko/