In den meisten EU-Mitgliedsstaaten müssen Arbeitnehmer in diesem Jahr wohl mit Reallohnverlusten rechnen. Dazu hat auch die Bundesrepublik beigetragen: Die deutsche Lohnzurückhaltung setzt andere Staaten unter Druck, ebenso zu verfahren.
Schlechte Nachrichten für Arbeitnehmer in Europa: In den meisten Ländern der EU drohen in diesem Jahr Reallohnverluste, nur in neun von 27 Staaten können die Beschäftigten mit mehr Geld rechnen. Im Durchschnitt dürften die realen Einkommen pro Arbeitnehmer um 0,8 Prozent sinken.
Zu diesem Ergebnis kommt die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung, die Prognosen der EU-Kommission ausgewertet hat. Selbst in Deutschland, wo die Wirtschaft kräftig wächst, können die Beschäftigten nach Abzug der Preissteigerung nur mit einem winzigen Lohnplus von 0,1 Prozent rechnen.
Problem starker Preisanstieg
Ein Grund für die sinkende Kaufkraft der Arbeiter und Angestellten in Europa ist der relativ starke Preisanstieg. So erwartet Brüssel für dieses Jahr in der gesamten EU mit ihren 27 Mitgliedern eine Inflationsrate von drei Prozent.
In Südeuropa schlägt zudem die Schuldenkrise durch: Spanien, Portugal und Griechenland fahren einen strikten Sparkurs, im öffentlichen Sektor wurden die Einkommen um bis zu 30 Prozent gekürzt, berichten die Forscher. In Griechenland und Portugal dürfte die gesamte Wirtschaft in diesem Jahr schrumpfen, in Spanien wird nur ein sehr geringes Wachstum erwartet. Alles zusammen führt zu starken Lohneinbußen. In Griechenland dürften die Reallöhne in diesem Jahr um 3,4 Prozent sinken, dabei sind sie schon im Vorjahr um 8,2 Prozent geschrumpft.
Allerdings ist die Lohnentwicklung auch in Ländern dürftig, die wirtschaftlich besser dastehen. So erwartet die EU-Kommission auch in Frankreich und Österreich Reallohnverluste.
Und was ist mit der Bundesrepublik? Deutschland hat über Jahre Lohnzurückhaltung geübt und war Schlusslicht bei der Einkommensentwicklung in Europa. Dies hat sich inzwischen geändert: Deutschland dürfte in diesem Jahr auf Platz neun liegen – und zwar mit einem realen Lohnplus von 0,1 Prozent. Deutschland ist im Gehalts-Ranking also nicht wegen einer expansiven Lohnpolitik nach vorn gerückt. Vielmehr ist die Entwicklung in den anderen Ländern noch schwächer als hierzulande.
Damit sei das eingetreten, wovor er und andere Forscher schon lange warnen, meint Torsten Schulte, Tarifexperte bei der Böckler-Stiftung. Die beständige Lohnzurückhaltung in der großen deutschen Volkswirtschaft hat andere Länder unter Druck gesetzt, ebenfalls Lohnzurückhaltung zu üben.
Volkswirte wie Andreas Scheuerle von der Deka-Bank erwarten, dass sich im nächsten Jahr die Lage entspannt und die Einkommen in Deutschland wieder stärker steigen. Er verweist darauf, dass in jüngster Zeit ordentliche Tarifergebnisse erzielt wurden. So habe die IG Metall in der holz- und kunststoffverarbeitenden Industrie einen Abschluss im Volumen von gut vier Prozent durchgesetzt. Einen ähnlichen Abschluss könnte die IG Metall im kommenden Jahr auch in der großen Metall- und Elektrobranche anpeilen, meint er.
Schulten fürchtet allerdings, dass die EU-Regierungen in eine andere Richtung marschieren wollen. Mit dem Euro-Plus-Pakt vom März habe das deutsche Vorbild Eingang in die EU-Politik gefunden: Demnach sollten auch andere Staaten mit einer restriktiven Lohnentwicklung ihre Wettbewerbsposition verbessern. Wenn dies geschehe, werde jedoch „endgültig eine negative Lohnsenkungsspirale in Gang gesetzt“, warnt der Forscher.