Die Athener sind zu allem entschlossen, der Protest eskaliert wieder. Es ist ein verzweifelter Versuch, abzuwenden, was kaum abzuwenden ist: dass es den Griechen stärker ans Geld geht. Von Manuela Pfohl, Athen
Haut ab, das knallt gleich", ruft einer und rennt, was das Zeug hält. Nur weg vom Syntagmaplatz. Die Hand vor dem Mund, wie auch all die anderen, die sich in den Straßen rund um das Parlament in Athen versammelt haben. Im Herzen der griechischen Hauptstadt brennt die Luft vom Tränengas, das die Polizei seit Stunden verschießt. Das dumpfe Knallen der Granaten warnt davor, sich dem Platz der Verfassung zu nähern. Die Sonnenschirme vor dem Mc Donalds direkt am Platz sind heruntergebrannt. Die schwere gläserne Eingangstür wurde herausgerissen. Bäume unter denen am Montag noch die Demonstranten ihre Vollversammlung abhielten, sind abgebrannt. Davor rauchen Barrikaden aus Müll und Holz, die die Protestler auf den Straßen angezündet haben. Doch der Ruf des Flüchtenden verhallt nahezu ungehört. Die Athener sind gekommen, um zu bleiben.
20.000 Demonstranten und 5000 Polizisten sind aufmarschiert am und um den Syntagmaplatz, dem Zentrum des Protestes. Noch mehr als sonst. Auslöser: Am Abend steht im Parlament die Abstimmmung über das Sparpaket der Regierung an. Das ist wiederum Bedingung für die Hilfen aus der Eurozone und vom IWF. Die Gewerkschaften haben zum Generalstreik aufgerufen, 48 Stunden soll er dauern.
Und es lief wie so oft in den vergangenen Wochen in Athen: Nach friedlichem Beginn der Kundgebung kam es zu Straßenschlachten zwischen der Polizei und Hunderten vermummten Jugendlichen. Die Demonstranten warfen Steine, die Polizei setzte Tränengas ein. Drei Polizisten wurden verletzt, mindestens drei Demonstranten hatten Atemprobleme. Bei Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Gruppen wurde zudem eine Person durch einen Stich verletzt.
Heterogener Widerstand
Solche Szenen wechseln sich in Athen mit Momenten ab, die wenig mit dialektischer Verbissenheit zu tun haben. Der Widerstand ist höchst heterogen. Zu ihm gehört auch die ganz entspannte "Sitzblockade" in einem der vielen kleinen Straßencafés der Nebenstraßen. Direkt hinter den Polizeiabsperrungen trinken die Protestler ihren Cappuccino zusammen mit den neugierigen Touristen, während andere immer wieder durch die Polizeiketten brechen, die den Platz von den Nebenstraßen abriegeln sollen. Hin zu den Camps der Belagerer, die wie in einem Kessel von der Polizei eingeschlossen sind. "No Pasaran" - sie werden nicht durchkommen, steht auf einem riesigen Transparent, das sich gegen die Regierung richtet.
Die Athener sind zu allem entschlossen. Es ist ihr Tag. Ihr verzweifelter Versuch, doch noch abzuwenden, was kaum noch abzuwenden ist: Der Beschluss der Parlamentarier, das Volk mehr zur Kasse zu bitten. Die Abgeordneten sitzen Parlamentsgebäude und werden von schwerbewaffneten Polizisten beschützt, die in mehreren Reihen dicht an dicht versuchen, Abstand zwischen den aufgebrachten Demonstranten auf dem Platz und dem Parlament zu halten.
Dieses Mal geht die Rechnung nicht auf. "Wir ziehen uns vielleicht vorübergehend zurück", sagt Zina, "aber wir kommen in ein paar Stunden wieder". Dass der stellvertretende Ministerpräsident Theodoros Pagalos am Sonntag damit drohte, zum Schutz der Banken Panzer auffahren zu lassen, war das eine. Das andere, dass schon dessen Großvater in der Krise 1973 Panzer gegen die griechische Bevölkerung einsetzte. Ein Trauma, das vielen Athenern noch gut in Erinnerung ist. "Ich hätte nie gedacht, dass ich in meinem Alter noch mal auf die Straße gehen muss, um wieder gegen ein despotisches System zu demonstrieren", wettert Zina. Die 75 -Jährige kann überhaupt nur mit Mühe laufen. Das Tränengas beißt in den Augen und lässt sie schwer atmen. Trotzdem ist sie zum Syntagma gekommen. Jetzt erst recht. Die nächsten Stunden will sie kämpfen.
Der Fernfahrer und die Pappkartons
Doch die Menschen auf dem Syntagmaplatz wollen nicht noch mehr sparen. Der Platz ist auch am Abend vor dem Krawalltag schon knackevoll. Die Vollversammlung diskutiert über die Krise und die Auswege daraus. Manche machen auch einfach nur ihrem Ärger Luft. Jeder hat hier das Recht, übers Mikro zu den anderen zu sprechen. Vorausgesetzt, er war vorher bei Thanassis und seinen vier Pappkartons der Demokratie. Den ganzen Tag über hat der 35-Jährige zusammen mit den anderen Jungs aus seiner Gruppe hinter einem grob gezimmerten Holztisch vor den vier Kisten gesessen. In eine kommen die Vorschläge für politisch geforderte Abläufe. In eine zweite gehören generelle politische Vorschläge. Ideen für Aktionen kommen in Karton drei und auf dem vierten steht: "Schmeiß hier deinen Slogan rein." Am Abend entscheidet dann das Los, wer seine Vorschläge im Plenum öffentlich machen kann. Basisdemokratie, die bestens funktioniert, wie Thanassis versichert.
Ob sie allerdings auch die Parlamentarier beeindruckt, die über die Zukunft der Griechen entscheiden sollen, ist eher ungewiss. Thanassis jedenfalls ist skeptisch. "Ich glaube, die wollen gar keine andere Lösung, als uns noch weiter zu schröpfen", meint er und nennt sich einen der "Verzweifelten an dieser Eurozone", für die es keine Zukunft mehr gebe. Der Platz ist voll von ihnen. Rentner, die kaum noch Rente kriegen, Studenten, die sich ihr Studium nicht mehr leisten können, Frauen, die sich um ihre Kinder sorgen.
Und Arbeiter wie Thanassis. Eigentlich ist er Fernfahrer. Aber irgendwann in der Wirtschaftskrise hat seine Firma ihn und die meisten seiner Kollegen entlassen müssen. Jetzt ist der Athener arbeitslos, kann sich keine Versicherung mehr leisten und wohnt wieder bei seinen Eltern, weil das Geld nicht für die Miete einer eigenen Wohnung reicht. Immer wieder hat Thanassis überlegt, wie er aus dem ganzen Schlamassel herauskommen kann, dann hat er sich entschlossen, mitzumachen bei den Protestlern auf dem Syntagmaplatz.
Das Widerstandsnest
Er hat, wie viele andere auch, mitten auf dem Platz sein Zelt aufgeschlagen und campiert dort Tag und Nacht. Ein Nest des Widerstands, das zusehends größer wird und nicht nur ganz unterschiedliche politische Ansichten toleriert, sondern auch künstlerische, religiöse und soziale Gruppen integriert. Auf Transparenten, Zeltwänden, Plakaten und Flyern sind die jeweiligen Forderungen zu lesen. Die einen wollen eine Verfassungsänderung, die anderen, die Banken verstaatlichen, die dritten meinen, die EU müsse reformiert werden.
Die "Gruppe der 300", die ihr blauweiß gestreiftes Zelt am Rand des Platzes hat, sammelt Unterschriften für ein Volksbegehren und fordert, dass alle 300 Parlamentarier sofort zurücktreten. Mittendrin streunen ein paar herrenlose Hunde herum, die solidarisch mitversorgt werden. Ein Händler verkauft Brezeln und gebratene Maiskolben, irgendwo wird gegrillt, am Mediazelt laufen die Infos aus anderen Städten ein und ein paar Schwarzafrikaner versuchen echt falsche Guccitaschen unters Volk zu bringen. Ein friedliches Miteinander, das nur von den Polizisten argwöhnisch beäugt wird, die rund um den Platz postiert sind. "Warum kommt ihr nicht rüber und macht bei uns mit", fragt einer am Mikro. "Ihr gehört doch zu uns und werdet von den Politikern genau so beschissen." Und: "Wir fordern euch auf, uns nicht am Schutz der Verfassung zu hindern."
Die Männer hinter den Schutzschilden verziehen keine Miene. Manche sind nicht älter als die Jugendlichen, die auf dem Platz gegen das System protestieren. Am Dienstagabend werden sie in Alarmbereitschaft sein, denn dann sollen bis zu 40.000 Demonstranten kommen, während die Parlamentarier drinnen debattieren. Und sollte das Parlament am Abend darauf für den Sparkurs stimmen, wird es wohl nicht beim abendlichen Rededuell bleiben, befürchten viele. Die Polizei hat schon jede Menge Absperrgitter herangeschafft, die das Parlament schützen sollen. In den Zelten der Widerständler werden Tipps ausgetauscht, wie man sich gegen Tränengas schützen kann. Und in den drei sehr noblen Hotels direkt am Platz werden die livrierten Doormen ihre Gäste vor möglichen Unannehmlichkeiten warnen.
Eine Zeit lang hofften die Sicherheitsleute, dass ausgerechnet die Gewerkschaften mit ihrem Generalstreik für Entspannung auf dem Syntagmaplatz sorgen könnten. In ganz Athen sollte am Dienstag und Mittwoch der Bus- und Bahnverkehr lahmgelegt werden. Dann würde es schwierig für die Demonstranten aus den Außenbezirken, zum Parlament zu kommen. Doch die Angestellten der Verkehrsbetriebe haben am Abend kurzfristig beschlossen, die U-Bahn aus dem Streik herauszunehmen, um den Demonstrationen nicht zu schaden.