Was bewegt einen gut bürgerlichen IT-Spezialisten, Jahrgang 1964, der mit Frau und Kind in der schön schwarzen Bischofsstadt Limburg wohnt - Tageszeitungsleser und Fernsehkonsument, politisch eher mäßig interessiert –, sich ausgerechnet mit der Todesnacht in Stammheim zu beschäftigen. Zum Zeitpunkt des Todes der RAF-Gefangenen Baader, Ensslin, Raspe in der Nacht von 17./18. Oktober 1977 zählte jener gerade mal 13 Lenze und dürfte den Kopf eher voll mit Fußball, Mädchen oder dem Problem durchschnittlicher Noten gehabt haben.
Es kam das Jahr 2007 und die Medien brachten Dokus, Interviews, Hintergrundgeschichten über das „Wunder von Mogadischu“, Schleyer, den Oberleutnant Helmut Schmidt und die Selbstmorde im sichersten Knast der Welt. Eine Sicht der Dinge, die seit der - von der „Kleinen Lage“ im Bonner Bundeskanzleramt veranlassten - dpa-Meldung von 8:53 Uhr des besagten Tages wie in Stein gemeisselt scheint: „Baader und Ensslin haben Selbstmord begangen.“ Just in dieser Zeit erwirbt unser IT-Spezialist auf dem Flohmarkt als Urlaubslektüre das dickleibige Opus „Der Baader-Meinhof-Komplex“ eines gewissen Stefan Aust, seines Zeichens SPIEGEL-Chef-Redakteur. Der Urlaub ist vorbei, das Buch ausgelesen. Kurzweilig ist es ja geschrieben – mit vielen packenden Dialogen. Man sieht Aust förmlich mit Bleistift und Notizblock – sorry mit Diktafon oder Tonband, so viel Fortschritt muss sein - bei Baader und Ensslin in der illegalen Wohnung am Küchentisch sitzen, in der gekaperten „Landshut“ kauernd und in den Gängen von Stammheim den Beamten über die Schulter schauen.
Im Kopf unseres ITlers entstehen Fragen: Woher weiß Aust das alles so genau? Was und wer sind seine Quellen? Wie kommt er zu seinen Schlußfolgerungen? Im Buch findet sich dazu nichts. Es ist Neugier, das dumpfe Gefühl, da wird uns eine Geschichte erzählt, die zu glatt ist. Er notiert sich die ersten Fragen, stöbert nach weiterer Literatur zu den Geschehnissen, besorgt sich Zeitschriften und Zeitungen aus dem Jahr 1977. Je mehr er liest, desto zahlreicher werden die Fragen und der Berg seiner Notizen wächst. Ohne es zu ahnen, hat er sich auf einen Trip begeben, den er nicht mehr verlassen und an dessen Ende er ein anderer Menschen geworden sein wird.
2008 kommt der Eichinger-Film mit dem gleichnamigen Titel wie das Aust-Buch in die Kinos. Aust selbst ist als Berater dabei. Gefördert mit Millionen aus öffentlichen Mitteln, begleitet durch eine massive Medienkampagne und zahlreiche Talkshows wird hier der „Krieg der 60 gegen die 60 Millionen“ inszeniert. Eine Mischung aus Bonnie und Clyde, sprich Ensslin und Baader, wirren Politdialogen und ergreifend eindringlichen Bildern aus der Todesnacht, bei der sich die in Isolierhaft befindlichen Häftlinge in mit Hilfe einer selbstgebauten Kommunikationsanlage in Hifi-Qualität unter einander verständigen.
Quasi als Antwort auf dieses Machwerk weitet unser Mann seine Recherchen aus. Anfragen bei Archiven und staatlichen Stellen folgen, sind doch die obligatorischen 30 Jahre Sperrfrist vergangen. Im Staatsarchiv Ludwigburg bekommt er Akteneinsicht in bisher verschlossenes Material, er kann sich auch die Tonbänder aus dem Stammheim-Prozess anhören, von deren Existenz bisher Außenstehende nichts wußten. Am Hamburger Institut für Sozialforschung (HIS) durchforstet er nicht nur die umfangreichen Akten einer Rechercherche-Gruppe des Kommunistischen Bundes (KB), sondern stößt im Nachlass des ehemaligen RAF-Anwalts Weidenhammer auf Teile der Ermittlungsakten des Todesermittlungsverfahrens der baden-württembergischen Staatsanwaltschaft. Diese liegen zu diesem Zeitpunkt wieder bei der Staatsanwaltschaft, eine Einsicht in die Originale ist nicht möglich. Andere Stellen mauern komplett, so das BKA, Bundesinnenministerium, Bundeskanzleramt, LKA. Begründung: Akteneinsicht würde „die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschlands gefährden“.
In seinem Computer wächst die Zahl der Aktenabschriften, Notizen, Zeugenaussagen zu den verschiedenen Aspekten der Todesnacht. Parallel vergräbt er sich in die umfangreiche forensische und pathologische Literatur, die man gelesen haben muss, wenn man Obduktionsberichte, Spurenauswerteberichte, Schusswaffengutachten etc. mit ihrer ganz eigenen Begrifflichkeit wirklich verstehen will. Dieses Wissen kann er sich nicht aus sonntäglichen „Tatort“ aneignen. In langer nächtlicher Arbeit entsteht peu à peu aus dem Material etwas, was er ein Puzzle nennt. Einem gedeihlichen Familienleben sind die Archivbesuche, das Aktenstudium und die Nachtsitzungen nicht immer zuträglich. Allerdings beschränkt er seine Recherchen nicht auf beschriebenes Papier.
Mit großer Mühe und einigen Kosten besorgt er sich mit Hilfe des Internets baugleiche Plattenspieler, Boxen und Verstärker, wie sie in den Zellen der RAF-Gefangenen im 7. Stock vorhanden waren. Die Kenntnis darüber hat er aus dem Gutachten des Sachverständigen der Oberpostdirektion Stuttgart, der den Gefangenen ein funktionierendes Kommunikationssystem attestiert hatte. Der Nachbau unseres ITlers mit exakt den Materialien aus dem Gutachten kommt zu dem nüchtern Ergebnis: Es funktioniert nicht. Lautsprecherboxen kann man nicht als Mikrofone benutzen. Sie transportieren nur ein tiefes Brummen, aber keine verständliche Sprache. Auch der Weg über die anstaltseigene Radioleitung war verschlossen, weil die Verbindung nach der Kontaktsperre in einer Zelle unterbrochen worden war. Er baut die Aktencontainer nach, mit denen nach Aussage des Kronzeugen Speitel Anwälte der Häftlinge drei Handfeuerwaffen, Munition, 9 Stangen Sprengstoff, eine Minox-Kamera ein Radio und – man staune – eine Kochplatte eingeschleust haben sollen. Sein Befund: Den speziell geschulten Beamten für die Leibesvisitation innerhalb der JVA Stammheim wären die hart verklebten Seiten mit den ausgeschnittenen Hohlräume aufgefallen.
Und weitere Fragen tauchen auf, die einer Lösung harren. Wieso hat in dieser Nacht keiner Schüsse gehört, weder Häftlinge im 6. Stock noch die Beamten im 7. Stock. Es sollen ja insgesamt vier gefallen sein. Drei in Baaders Zelle, einer in Raspes. Hier helfen die Baupläne und statischen Unterlagen der JVA weiter, die er sich aus dem Staatsarchiv Ludwigsburg besorgt. Er berät sich mit einem Waffenexperten, erwirbt eine Schreckschusswaffe, die mit der Waffe aus Baaders Zelle kompatibel ist, und macht ein Gebäude ausfindig, das der Bausubstanz und Raumaufteilung nach mit Stammheim zu vergleichen ist. Dort misst er zusammen mit einem Helfer den Schallpegel, den Schüsse in verschiedenen Abständen und durch geschlossene Türen hindurch verursachen. Die Messergebnisse lassen die Aussage zu, Schüsse wären gehört worden und Schalldämpfer wurden in keiner Zelle gefunden.
Unser Mann gibt dem Material allmählich eine Struktur und formuliert einzelne Puzzleteile aus. Er schickt ein Expose, die Struktur und einige Kapitel an einen Verlag, der sofort zuschlägt. Da ein Lektorat dieses umfangreichen Materials nur für einen mit der Materie Vertrauten möglich ist, bringt der Verlag ihn mit einem Berliner Antiquar und Journalisten in Kontakt, der sich auch seit Jahren mit den Vorgängen in Stammheim beschäftigt. Es kommt zu einem Treffen und dort wird die Grundrichtung der weiteren Arbeit festgelegt. Das Ganze soll in Form eines Indizienprozesses gestaltet werden.
Angeklagt ist die staatsoffizielle Darstellung der Tode als Selbstmord, wie sie in der Einstellungsverfügung des Todesermittlungsverfahrens der Stuttgarter Staatsanwaltschaft und im Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses des Landtages von Baden-Württemberg formuliert ist. Das Quellenmaterial der Untersuchung soll auszugsweise für die Leser auf einer CD dem geplanten Buch beigelegt werden. Wer hat schon die Zeit und das Geld, in den jeweiligen Archiven die Originale einzusehen? Eine große überregionale Zeitung vielleicht oder ein gut betuchtes Nachrichtenmagazin? Aber unser Mann wusste von seinen Archivbesuchen, dass investigative Journalisten dort nicht Schlange gestanden hatten. Das Schreiben beginnt und der Mailverkehr zwischen Limburg und Berlin schwillt an. Die Untersuchungen berühren auch schwierige Kapitel wie u.a. - die Rolle von in- und ausländischen Geheimdiensten im Kampf gegen Stadtguerilla-Gruppen, - das Verständnis von Staatsraison, wie ihn der Bonner Krisenstab hatte, dass einen anderen Weg als eine militärische Lösung bei der Landshut-Entführung ausschloss.
Besonders bei diesen Themenkomplexen, bei denen die Akten- oder schon die Informationslage dünn ist, ist große Disziplin gefragt, nicht in Spekulationen über mögliche Mordszenarien zu geraten. Das hatte der SPIEGEL schon 1980 mit einer wilden Story über ein Killerkommando aus zwei BND- und einem Mossad-Agenten gemacht, um dann sein eigenes Konstrukt mit einem Satz zu erledigen und brav die offizielle Version zu bestärken. 2010 ist die Hauptarbeit abgeschlossen.
Was folgt, ist die sprachliche Überarbeitung, die im wesentlichen durch das Lektorat des Verlags erfolgt. Unser Mann kann sich etwas entspannen, keine Nachtsitzungen mehr, höchstens der manchmal nervige Lektor am Apparat, der mit ihm um Formulierungen feilscht. Diese drei Jahre des Ringens mit dem Stoff sind nicht spurlos an ihm vorüber gegangen. Seine Lesegewohnheiten haben sich verändert. Statt des üblichen bürgerlichen Lokalblattes, liest er jetzt eher linke Medien in Printform oder im Netz. Er stößt zusammen mit Kollegen in seinem Betreib die Wahl eines Betriebsrates an, wird zum Vorsitzenden gewählt. Seit 2010 engagiert er sich innerhalb der hessischen Linkspartei im Arbeitskreis „Demokratie, Bürgerrechte, Datenschutz“.
Manchmal kann nichts so anstrengend sein, wie das Bedürfnis und den Drang zu befriedigen, sich nicht mit den „offiziellen Wahrheiten“ abspeisen zu lassen. „Prüfe jeden Posten, du mußt ihn bezahlen“, hat uns Brecht ins Stammbuch geschrieben. Helge Lehmann hat uns eine Untersuchung vorgelegt, die die offiziellen Postulate über die Todesnacht geprüft und für nicht haltbar erklärt hat. Daran wird in Zukunft anzuknüpfen sein.
Weitere Infos zum Buch unter www.todesnacht.com
Helge Lehmann: Die Todesnacht in Stammheim. Eine Untersuchung
Indizienprozess gegen die staatsoffizielle Darstellung und das Todesermittlungsverfahren
Unter Mitarbeit von Olaf Zander
Mit Dokumenten CD 237 Seiten, 68 Abbildungen, broschiert
Pahl-Rugenstein Verlag ISBN 978-3-89144-437-5