[S] Das Gericht erkennt keine Tötungsabsicht

Erstveröffentlicht: 
24.05.2011

Nürtingen. Im Musiknachtprozess verurteilen die Richter neun junge Männer nur wegen gefährlicher Körperverletzung. Von Jürgen Veit

 

Zu Freiheitsstrafen von zwei bis drei Jahren hat die Dritte Jugendkammer des Stuttgarter Landgerichts gestern neun junge Männer verurteilt. Sie waren an einem Überfall auf ein Lokal während der Nürtinger Musiknacht am 8. Mai des vergangenen Jahres beteiligt. Im Gegensatz zur Staatsanwaltschaft bewertete das Gericht die Tat nicht als versuchten Mord, sondern als gefährliche Körperverletzung, Landfriedensbruch und Sachbeschädigung. Die Richter folgten damit der Einschätzung ihrer Kollegen, die im März neun erwachsene Komplizen der Angeklagten zu ähnlichen Strafen verurteilt hatten.

Zwei der neun jetzigen Angeklagten im Alter von 18 bis 21 Jahren müssen für drei Jahre hinter Gitter. Bei einem von ihnen handelt es sich laut dem Vorsitzenden Richter Joachim Holzhausen um den „Strippenzieher”, beim anderen wurde eine frühere Verurteilung mit einbezogen. Vier der Männer müssen zweieinhalb Jahre sowie einer zwei Jahre und drei Monate ins Gefängnis. Zwei weitere Mitangeklagte, die zur Tatzeit noch minderjährig waren, sind zu Bewährungsstrafen von je zwei Jahren verurteilt worden. Damit entsprach das Urteil dem Strafmaß, das der Staatsanwalt Stefan Biehl - nach einer Absprache aufgrund von Geständnissen - gefordert hatte.

Dessen rechtliche Würdigung ist allerdings eine andere. Denn der Richter Holzhausen betonte in der Urteilbegründung, er gehe nicht davon aus, dass die Angeklagten ihre Opfer hätten töten wollen. Bei dem Überfall auf das Lokal am Bahnhof in Nürtingen (Kreis Esslingen) sind fünf Männer durch Hiebe mit Schlagstöcken und einem Stahlrohr zum Teil schwer, aber nicht lebensgefährlich verletzt worden.

Das Ziel des nicht einmal eine Minute dauernden Angriffs sei die Einschüchterung der Gäste gewesen, so Holzhausen. Die Schläger hätten nicht nachgesetzt, was auf eine „erhöhte Hemmschwelle” schließen lasse. Fest stehe, dass es sich bei der Tat um einen Racheakt von Anhängern der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK gehandelt habe. Denn eine Woche zuvor sei einer der jungen Männer vor dem Lokal von einem Türken mit den Worten „Ich ficke alle PKK” beleidigt worden. Daraufhin habe ein PKK-Beauftragter im Mesopotamischen Kulturverein Cannstatt Leute für den Angriff zusammengetrommelt. Verabredet worden sei der Überfall unter anderem durch eine verschlüsselte SMS, in der zu einem Picknick eingeladen wurde mit der Zusatzinformation: „Danach müssen wir jemanden besuchen.”

Nach einem Flaschenwurf als Startsignal seien die dunkel gekleideten und maskierten Männer in drei Gruppen aus verschiedenen Richtungen auf die Gaststätte zugestürmt. Mit Steinen sei zunächst eine Scheibe eingeworfen worden, ehe die Angreifer auf ihre Opfer eingeschlagen hätten, auch auf den Wirt, der die Kneipe inzwischen aufgegeben und mit seiner Familie Nürtingen aus Angst vor weiteren Übergriffen verlassen hat.

Neun Komplizen der gestern verurteilten Angeklagten hat bereits im März die Erste Strafkammer des Landgerichts zu Haftstrafen von jeweils zwei Jahren und neun Monaten verurteilt - ebenfalls wegen gefährlicher Körperverletzung. Sowohl die Staatsanwaltschaft als auch die Verteidigung haben dagegen Revision eingelegt. Gegen die gestrige Entscheidung will die Anklagebehörde keine Rechtsmittel einlegen, dies sei im Rahmen der Verfahrensabsprache so vereinbart worden.

Alle 18 Angeklagten waren durch einen Mittäter schwer belastet worden. Doch dieser hat sich laut Holzhausen nicht als „leuchtender Kronzeuge” herausgestellt, sondern als „zutiefst in diese Tat verstrickter Mensch”. Dass er - wie von den Verteidigern angeprangert - von den Ermittlungsbehörden „umworben” worden sei und im Falle einer Aussage strafmildernde Angebote erhalten habe, sei unbestritten. „Aber das ist auch erlaubt.” In der Verhandlung indes machte der Mann von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch.

Unmittelbar nach der Urteilsverkündung skandierte eine Gruppe junger Männer auf den fast restlos besetzten Zuschauerplätzen lauthals, aber grammatikalisch nicht ganz korrekt: „Freiheit für alle politische Gefangene.” Sie verstummten erst, als der Vorsitzende Richter Joachim Holzhausen ihnen drohte, sie sonst aus dem Gerichtssaal entfernen zu lassen.