Hunderttausende Leiharbeiter wurden mit Mini-Gehältern abgespeist, weil christliche Gewerkschaften Billiglöhne vereinbart hatten. Laut Arbeitsgericht dürfen die Beschäftigten viel Geld nachfordern - doch die meisten scheuen eine Klage gegen ihren Chef. Ein Betroffener kämpft nun für sein Recht.
Reutlingen/Hamburg - Frank Schellenberg hat Mut bewiesen - und dabei seinen Job riskiert. Der Drucker, der als Leiharbeiter eingesetzt wird, forderte im März rund 9000 Euro von seinem Arbeitgeber, die dieser ihm schuldig war. Wenige Tage später wurde Schellenberg nach eigenen Angaben fristlos entlassen.
Doch wenn der 51-Jährige durch die Kündigung eingeschüchtert werden sollte, ist der Versuch kläglich gescheitert: Der Familienvater hat sich einen Anwalt gesucht - und fordert nun gerichtlich sein Geld und seinen Job bei der Leihfirma Tabel zurück. Am kommenden Dienstag beginnt der Prozess vor dem Lübecker Arbeitsgericht. Das Unternehmen selbst will sich zu dem Verfahren nicht äußern.
Sicher ist: Das Verfahren dürfte Hunderttausende andere Leiharbeitnehmer interessieren, die jahrelang zu Dumpinglöhnen gearbeitet haben. Grund ist ein wegweisendes Urteil des Bundesarbeitsgerichts im vergangenen Dezember. Die Richter erklärten Verträge, die mit der Tarifgemeinschaft Christlicher Gewerkschaften für Zeitarbeit (CGZP) ausgehandelt worden sind, für ungültig. Also jene Gewerkschaften, die ohnehin in der Kritik stehen, arbeitgeberfreundliche Verträge auszuhandeln. Das Urteil besagt, dass Leiharbeiter, die unter solchen Verträgen gearbeitet hatten, nun anhand des "Equal-Pay"-Grundsatzes Geld nachfordern können: Gibt es in einem Betrieb keinen gültigen Tarifvertrag, steht Leiharbeitern derselbe Lohn zu wie den fest angestellten Kollegen - auch bis zu drei Jahre rückwirkend.
Eine Chance, die sich Schellenberg nicht entgehen lassen will: "Wir Leiharbeiter arbeiten wie die Sklaven", sagt Schellenberg. "Wieso sollte ich jetzt auf das Minimum verzichten, das mir zusteht?"
"Je niedriger der soziale Status, desto weniger wehren sich die Leute"
Das Recht auf rückwirkend angemessene Löhne steht Schätzungen zufolge 250.000 bis 280.000 Leiharbeitern zu - also rund einem Viertel aller Zeitarbeitnehmer in Deutschland. Von den Nachzahlungen betroffen sind bundesweit rund 1400 Unternehmen, zumindest in der Theorie. Denn bislang sind nur wenige Klagen wie die Schellenbergs bekannt.
"Höchstens zehn Prozent der betroffenen Zeitarbeiter klagen", sagt Schellenbergs Anwalt Holger Thieß, der selbst rund 20 Leiharbeiter vertritt. Viele hätten Angst, sich mit dem eigenen Arbeitgeber anzulegen. Zwei seiner Mandanten zogen ihre Forderungen schon zurück, zwei weitere wollen zumindest im Moment nicht mehr klagen. "Je niedriger der soziale Status, je prekärer die Verhältnisse, desto weniger wehren sich die Leute", sagt Thieß.
Schellenberg wundert es nicht, dass einige seiner Leidensgenossen sich gar nicht erst um einen Nachschlag bemühen - zu groß ist ihre Sorge, dass sie ihren Job verlieren. Auch er sei unter Druck gesetzt worden. Kurz nachdem er seinen Lohn nachgefordert hatte, habe ihn ein Vertreter der Leihfirma zum Gespräch gebeten, sagt Schellenberg. Der Firmenvertreter habe damit gedroht, dass das Unternehmen mit einem klagenden Angestellten langfristig nicht zusammenarbeiten könne. Schellenberg hielt dennoch an seiner Forderung fest - mit den bekannten Konsequenzen. "Von denen lasse ich mich nicht einschüchtern", sagt er.
Sozialkassen warten auf Milliardenbeträge
Das Urteil zu den Lohnnachzahlungen hat eine riesige Bedeutung, nicht nur für billig abgespeiste Leiharbeiter: Auch die Sozialkassen können ihre Forderungen rückwirkend geltend machen. Schätzungen zufolge geht es um Renten-, Kranken-, Arbeitslosen- und Pflegeversicherungsbeiträge in Höhe von zwei bis drei Milliarden Euro, die der öffentlichen Hand entgangen sind. Betroffene Leihfirmen haben bis Ende Mai Zeit, die Beiträge nachträglich regulär zu zahlen; danach sollen Säumniszuschläge erhoben werden. Doch auch hier ist die Zwischenbilanz gelinde gesagt dürftig. Bei der Deutschen Rentenversicherung heißt es lediglich, man sei im Gespräch mit der Tarifgemeinschaft Christlicher Gewerkschaften für Zeitarbeit, die die einzelnen betroffenen Firmen anschreiben sollte. Nähere Ergebnisse erwarte man in Kürze.
Doch bis es soweit kommt, könnte noch viel geschehen. So versucht die FDP derzeit Druck auf Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) auszuüben. Sie solle die rückwirkende Lohnforderung unterbinden, sonst drohe eine Reihe von Insolvenzen.
Setzen sich die Liberalen durch, droht der deutschen Justiz eine herbe Schlappe. Wie lässt sich rechtfertigen, dass ein bahnbrechendes Urteil in der Praxis so windelweich wird? Dabei wird die Zeit knapp. Denn für die Nachforderung der Löhne gilt die dreijährige Verjährungsfrist. Auf das Urteil bezogen heißt das: Für das Jahr 2008 können nur bis Ende des Jahres die Löhne eingefordert werden, danach verjährt die Frist.
Schellenberg ist jedoch siegessicher: Erste Urteile in ähnlichen Fällen sind in seinem Sinne ausgefallen. Er will notfalls sogar gegen den Willen seiner Leihfirma wieder arbeiten, sollte er den Prozess gewinnen. Dann aber zu einem legalen Tarif des Deutschen Gewerkschaftsbundes.