Patronen für Professoren

Ein Schreiben mit 8-Millimeter-Projektilen war auch an ihn gerichtet: Eckhard Jesse.Foto: Ronny Rozum
Erstveröffentlicht: 
01.04.2011

Politikwissenschaftler erhalten Post mit 8-Millimeter-Projektilen

 

Chemnitz. Die Patronen kamen per Post. Den 8-Millimeter-Projektilen lag ein inzwischen auch übers Internet veröffentlichtes Bekennerschreiben bei, das ankündigte: "Die nächste Zustellung erfolgt per Express..." Neben Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) und Bundesanwalt Rainer Griesbaum in Karlsruhe wurde diese offenkundig drohende Botschaft noch an zwei sächsische Wissenschaftler adressiert. Die so genannten "Revolutionären Aktionszellen" (RAZ), als die sich die Absender der Schreiben bezeichnen, wählten auch die Extremismusforscher Uwe Backes aus Dresden und Eckhard Jesse aus Chemnitz als Empfänger für ihren, wie sie schreiben, "besonderen Gruß" aus. Mit ihrer "Propaganda aus dem akademischen Elfenbeinturm" seien die beiden Forscher "herausragende Persönlichkeiten" jenes "staatlichen Aufmarsches", gegen den man eine "militante Plattform" aufbaue, schrieb die RAZ.

"Ich selbst habe zwar keinen Brief erhalten, aber das Schreiben, das an meinen Kollegen in Dresden ging, ist eindeutig auch an mich gerichtet", kommentierte Eckhard Jesse, Lehrstuhlinhaber an der Technischen Universität Chemnitz, gestern. Wenngleich er dem Brief wenig Bedeutung beimesse, habe man ihn unter Polizeischutz gestellt. "Rein vorsorglich", wie Jesse betont.

Was die Absender mit Propaganda meinen, dürfte hauptsächlich das von Backes und Jesse herausgegebene "Jahrbuch Extremismus und Demokratie" sein, eine Schriftenreihe, die zu den Standardwerken der Ex-tremismusforschung zählt. Von Kritikern wird den Forschern mitunter vorgeworfen, im Vergleich zur Linken Rechtsextremismus zu bagatellisieren. "Auf meine Arbeit hat das Schreiben keine Auswirkung, wie die Absender wohl beabsichtigten", sagt Jesse. Über die Jahre habe er viele anonyme Schreiben bekommen - "von links wie von rechts" - sagt er. Allerdings räumt er ein, dass der drohende Charakter des Briefes neue Qualität habe. "Bisher waren es Beschimpfungen von Leuten, die Frust rauslassen wollten. Dass man nicht nur Leuten aus der Politik, sondern auch Wissenschaftlern droht, gab es wohl noch nicht", sagt Jesse.

Von der Bundesanwaltschaft wurde ein Ermittlungsverfahren gegen unbekannt eingeleitet. Die Verdachtsmomente: Zugehörigkeit zu einer kriminellen Vereinigung und Bedrohung. Der Satz "die nächste Zustellung erfolgt per Express" lasse sich auch anders lesen, sagte ein Sprecher der Behörde gestern. Konkret: "Aus einem Pistolenlauf". Insofern sei der Bedrohungstatbestand gegeben. Die Zugehörigkeit zur kriminellen Vereinigung liege nahe, da es sich bei den "Revolutionären Aktionszellen" offenbar um mehr als ein Hirngespinst handelt. Die Gruppe trat in Berlin schon mit Sprengsatzanschlägen in Erscheinung.

Langfristig dürften vor allem Initiativen gegen Rechtsextremismus unter dem Vorfall leiden, urteilt der Mecklenburger Landtagsabgeordnete Mathias Brodkorb (SPD). Er meint damit jene Vereine, die sich seit Monaten gegen die Forderung von Bundesfamilienministerin Kristina Schröder (CDU) wehren, vor finanzieller Förderung zunächst ein Bekenntnis zum Grundgesetz zu unterzeichnen. "Wenn es noch eines aktuellen Beweises bedurft hat, dass antidemokratische und gewaltaffine Bestrebungen auch vom linken politischen Rand ausgehen können, so sind diese Argumente Bundesministerin Schröder nunmehr dank der RAZ eindrucksvoll in die Hand gegeben worden", urteilt Brodkorb. Er ist Mitbegründer der Internetplattform "Endstation rechts".

Stichwort: Revolutionäre Aktionszellen (RAZ)
Mit "Kommuniqués" im Internet haben sich die "Revolutionären Aktionszellen" (RAZ) vormals bereits zu drei Sprengsatzanschlägen in Berlin bekannt. Im Dezember 2009 wurde die Arbeitsagentur im Wedding zum Ziel, im Februar 2010 das Haus der Wirtschaft in Charlottenburg, im November 2010 das Bundesverwaltungsamt in Wilmersdorf. Die Täter verwandten selbst gefertigte Brandsätze aus Gaskartuschen. Auf einer einschlägigen Internetplattform hinterließen sie im Vorjahr eine Bastelanleitung zum Nachbau. Die Gruppe bezieht sich in Bekennerschreiben auf Wurzeln in der so genannten "Militanten Gruppe" (mg), die sich von 2001 bis 2009 mehrfach zu Brandanschlägen bekannt hatte. Die Bedrohung von Menschen stellt eine neue Qualität dar, da die RAZ bei Brandanschlägen bisher betonte, Personenschäden ausschließen zu wollen. (eu)