BZ-GASTBEITRAG: Wolfgang Kessler meint, wenn sich das westliche Industriesystem weiter verbreitet, jagen sich bald Katastrophen.
Atomdesaster in Fukushima, Ölhavarie im Golf von Mexiko, davor die
Finanzkrise. Eine Katastrophe jagt die nächste. Die Politik und die
betroffenen Unternehmen reagieren immer ähnlich: Zunächst versuchen sie,
die Probleme zu vertuschen. Dann geben sie vor, sie hätten die Lage im
Griff, um dann in einem plötzlichen Aktionismus an den Symptomen
herumzukurieren. Einige Monate später läuft alles weiter wie bisher: Die
US-Politik verteilt wieder Bohrlizenzen und die Großbanken spekulieren
wie eh und je.
Die Ursache der Probleme scheint dagegen tabu: Es ist die rasante
weltweite Verbreitung des westlichen Industriesystems. Dass diese
Entwicklung als Tabu behandelt wird, hat offensichtliche Gründe: Die
Politiker haben diese Entwicklung vorangetrieben und die großen
transnationalen Konzerne verdienen an ihr. Ausgangspunkt dieses
Industrialismus ist die Wachstumsstrategie der Industrieländer in den
1970er- und 1980er-Jahren. Atomenergie und Kohlekraft lieferten die
Energie für eine industrielle Massenproduktion von Kühlschränken über
Autos bis hin zu Computern. Die Risiken der Großtechnologien wurden in
Kauf genommen.
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Mit der Überwindung des real existierenden Sozialismus 1989 wurde dieser
Industrialismus global. Beseelt vom Wirtschaftsliberalismus schaffte
die Politik weltweit Begrenzungen für den Austausch von Waren,
Dienstleistungen und Kapital ab. Seitdem können Anleger und Konzerne
ihre Waren, ihre Fabriken und ihr Kapital um die Welt jagen. Und sie
treffen in den Schwellenländern auf Eliten, die ihre Völker mit Hilfe
westlicher Technologie und westlichen Kapitals aus der Armut führen
wollen.
Das Zauberwort Globalisierung meint nichts anderes, als dass nahezu die
ganze Welt auf den Zug des großindustriellen Turbokapitalismus
aufgesprungen ist, den der reiche Norden vorlebt. Chinesen, Inder,
Indonesier, Brasilianer, Mexikaner – sie alle wollen so leben, so
produzieren, so viel Energie verbrauchen, so viel Auto fahren wie
Amerikaner, Europäer und Japaner. Und sie haben so lange ein Recht
darauf, wie sich Amerikaner, Europäer und Japaner dieses Recht nehmen.
So entstehen überall Industriekomplexe, Intensivfarmen, werden
Kohlekraftwerke und Atomanlagen gebaut und geplant, in Erdbebengebieten,
am Meer. Für diesen globalen Industrialisierungswahn werden Ressourcen
geplündert, Meere verseucht, Regenwälder abgeholzt und
Risikotechnologien eingesetzt – ohne Rücksicht auf Menschen, Tiere,
Klima. Vor diesem Hintergrund ist der Begriff Naturkatastrophe
unangebracht. Die Natur kennt keine Katastrophen, sondern nur
Veränderungsprozesse. "Veränderungen wie ein Tsunami oder ein Erdbeben
werden erst im Bezugshorizont menschlicher Zivilisation zur
Katastrophe", sagt der Münchner Risikoforscher Ulrich Beck.
In Talkshows kann sich niemand vorstellen, dass es die Welt aushält,
wenn alle so wirtschaften wie die Industrieländer. Und alle so leben,
wie wir leben. Dennoch treiben Politik und Wirtschaft den globalen
Industrialismus voran. In der EU und in der Welthandelsorganisation
kennen die Verantwortlichen nur ein Ziel: den möglichst freien
Welthandel. Ist der Welthandel jedoch frei, dann wird das
Industriesystem zwangsläufig in alle Ecken der Erde exportiert. Auch
Katastrophen konnten diesen Trend nicht stoppen. Dies könnte sich durch
Fukushima ändern. Mit der Angst der Menschen wächst der politische
Druck. Darin liegt die Chance für ein Umdenken. Das gilt zunächst für
den Ausstieg aus der unbeherrschbaren Atomkraft. Das gilt aber auch für
die gesamte industrielle Entwicklung. Bei knappen Ressourcen und
wachsenden Risiken sind nur Volkswirtschaften zukunftsfähig, die anders
wirtschaften: ressourcenleicht statt energieintensiv, flexibel an Mensch
und Natur angepasst, dezentral und regional statt großindustriell und
global.
Und es braucht ein neues Konzept von Globalisierung. Der weltweite
Austausch von Produkten, die anderswo knapp sind, ist nützlich. Wird
jedoch der globale Industrialismus zum Maß aller Dinge, müssen sich alle
Länder den Spielregeln und Risiken dieses Industriesystems unterwerfen.
Eine eigenständige Entwicklung, die sich an den Bedürfnissen der
Menschen, an den Gegebenheiten vor Ort orientiert, ist nicht mehr
möglich. Für eine nachhaltige Entwicklung weltweit ist deshalb weniger
Globalisierung mehr. Noch ist diese Neuorientierung der (Welt-)
Wirtschaft ein Tabu. Doch Fukushima bietet die Chance, mit dem
Nachdenken zu beginnen. Sonst gilt: Nach der Katastrophe ist vor der
Katastrophe.
– Wolfgang Kessler ist Wirtschaftspublizist und Chefredakteur der christlichen Zeitschrift Publik-Forum