Auch vor den Gefängnismauern macht der Tod nicht kehrt; obwohl ein geflügeltes Wort unter Gefangenen davon spricht, dass „Knast konserviert“. Heute soll die Rede von Willi sein – er hat schon manchen Mitgefangenen sterben sehen und nun muss er sich mit seinem eigenen langsam, aber unaufhaltsamen Tod auseinander setzen.
Wer ist Willi?
Obwohl erst circa Mitte 40, bringt er es schon auf an die zwanzig Haftjahre; zuletzt wegen einer Raubserie zur Finanzierung seiner Drogenabhängigkeit zu einer langjährigen Haftstrafe mit anschließender, für das Jahr 2012 notierter, Sicherungsverwahrung verurteilt. Während der Haft bekam er, im Gefängnisjargon „Nachschlag“ genannt, eine weitere Haftstrafe wegen Beteiligung an einem Drogenschmuggel.
Er ist Bruder, Patenonkel für das Kind seiner Schwester und auch Vater, aber auch Sohn. Wobei sich, wie bei vielen Gefangenen, die familiären Beziehungen kompliziert und schwierig gestalten. Früher war er breitschultrig, hatte langes und volles Haar und wie er berichtet, einen Schlag bei den Frauen.
Wo steht Willi heute?
Seit er sich 1996 in Haft mit HIV infizierte, bei einem „Nadel-sharing“, nimmt er antivirale Medikamente, um den Ausbruch von HIV zu verhindern.
Exkurs - „Nadel-sharing“
Immer wieder fordern Drogenberatungsstellen, aber auch die AIDS-Hilfe (http://www.aidshilfe.de), dass Gefangenen kostenlos Spritzwerkzeug zur Verfügung gestellt werden sollte, um so zu verhindern, dass drogensüchtige Gefangene Spritzen teilen und sich so gegenseitig mit HIV oder anderen Krankheiten (z.B. Hepatitis) infizieren. Jedoch stoßen sie mit ihren Forderungen in der Justiz auf taube Ohren, lieber nimmt diese „Kollateralschäden“ wie jenen von Willi in Kauf. Selbstverständlich ist auch in Haftanstalten der Besitz von Drogen verboten, aber faktisch ist fast jede Substanz auch und gerade dort erhältlich. Für JustizmitarbeiterInnen wäre es eine Form von Kapitulation vor der Realität, würden sie Spritzwerkzeug ausgeben.
Also müssen Gefangene sich entweder „illegal“ Spritze und Nadel besorgen, oder sie funktionieren bspw. Kugelschreiberminen mit viel Geschick zu Spritzen um, mit all den gesundheitlich bedenklichen Folgen, vor allem jedoch sind sie gezwungen, das Werkzeug zu teilen. Aber es professionell zu desinfizieren, dazu fehlen die Mittel, weswegen sich immer wieder Gefangene untereinander infizieren.
Willi im Jahr 2011
Kürzlich diagnostizierte der Anstaltsarzt „AIDS-Vollbild“; bei einer Körpergröße von knapp 1,80 m wiegt er zwar noch etwas über 60 kg, davon sind jedoch bis zu 11 Liter Wassereinlagerungen in Beinen und im Bauchraum. Aus dem ehemals breitschultrigen Mann ist ein ausgezehrt wirkender, schmaler und leicht gebeugt gehender, scheinbar alter Mann geworden. Das Haar strähnig, die Augen eingefallen, kann er nur wenige Meter langsam gehen, bevor er erstmal stehen bleiben und Luft holen muss, um sich dann langsam weiter am Geländer vor zu tasten.
Im Gespräch wirkt er mitunter abwesend, ist mittlerweile auch zunehmend vergesslicher geworden und klagt über starke Schmerzen, trotz der zahlreichen Medikamente, die er jeden Tag erhält. Man kann den Verfall regelrecht von Woche zu Woche verfolgen.
Wer hilft Willi?
Für einige Tage hatte sich Herr K. bei Willi einquartiert. Trotz der Enge der 8 qm-Zelle wagten beide dieses Experiment. Denn ein solches war es. Wer viele Jahre alleine in seiner Zelle lebt, der entwickelt Routinen, Marotten und damit verträgt es sich dann eigentlich nicht, plötzlich Tag und Nacht einen Mitmenschen um sich zu haben. Mit viel Einsatz kümmerte sich Herr K. um Willi! Als dieser nämlich eines Nachts, noch alleine in der Zelle, stürzte, konnte er sich nicht bemerkbar machen, kam auch nicht mehr vom Boden hoch, angesichts seines sehr geschwächten Allgemeinzustandes. Zwar gibt es in jeder Zelle eine Notrufanlage, aber zu dieser konnte er sich nicht mehr hoch stemmen. So fanden ihn am Morgen die Beamten bei der Lebendkontrolle am Boden liegend. Bei dem Sturz hatte Willi sich einen Bruch der Schulter zugezogen, wurde für ein paar Tage ins Krankenhaus gebracht, wo die Schulter genagelt wurde und kam dann, wie er selbst mit ein bisschen Galgenhumor formulierte, „flügellahm“ zurück in seine Zelle. Bei allem Bemühen von Willi und Herrn K. brachen beide das Experiment der „Wohngemeinschaft“ nach einigen Tagen ab, zu sehr hatte jeder seine eigenen Routinen.
Tagsüber ist Willis Zelle offen, so dass Beamte und zu allgemeinen Öffnungszeiten auch andere Gefangene nach ihm schauen können, und des Nachts sehen die Wärter regelmäßig nach ihm. Jedoch ist absehbar, dass er wohl in die Krankenabteilung der Anstalt verlegt werden wird, zumindest solange sein Arm wegen des Schulterbruchs geschont werden muss. Wenn es nach Willi geht, möchte er so lange es nur möglich ist im gewohnten Umfeld bleiben, also in seiner Zelle.
Gnade für Willi?
Angeregt und auch unterstützt durch den Anstaltsarzt, stellte Willi einen Antrag auf gnadenweise Freilassung oder zumindest Vollstreckungsunterbrechung wegen Vollzugsuntauglichkeit.
Zwar bezeichnete der Arzt in einer Stellungnahme die Prognose für Willi als „infaust“, sprich, mit seinem Ableben wäre in näherer Zukunft durchaus zu rechnen, jedoch tut sich die Justiz schwer, Gefangene, zumal wenn im Anschluss Sicherungsverwahrung notiert ist, zu entlassen. Kürzlich wurde ein französischer Gefangener mit Krebs im Endstadium aus der JVA Bruchsal erst kurz vor dessen Tod nach Frankreich abgeschoben. Wenige Wochen nach der Abschiebung erreichte dann die Gefangenen die Nachricht von seinem Tod.
Zudem gibt es Arbeitsgruppen in den Justizministerien, welche sich (ernsthaft) mit „menschenwürdigem Sterben im Justizvollzug“ beschäftigen. Es geht dann also nicht mehr darum, den Betroffenen zumindest noch etwas Lebensqualität in Freiheit zu belassen, sondern eine Vollstreckung der Strafe oder Sicherungsverwahrung bis zum letzten Atemzug hinter Gefängnismauern.
Exkurs - „menschenwürdiges Sterben im Gefängnis“
Unter pragmatischen und ökonomischen Gesichtspunkten macht es sicherlich Sinn, sich darüber Gedanken zu machen. Anstalten können mit finanziellen Sonderzuweisungen rechnen, wenn ein Gefangener durch seine Medikation besonders „kostenträchtig“ ist, vielfach wird es auch an einem sozialen Empfangsraum für sterbenskranke Gefangene fehlen. Technokraten machen sich selbstredend auch Gedanken, wo man den Gefangenen sterben lassen soll: Auf „seiner“ Station, wo er vielleicht schon viele Jahre lebt und die Mitgefangenen und Bediensteten kennt, oder doch lieber in einer sterilen Vollzugskrankenhaus-Atmosphäre. Jedoch dem Ganzen die Bezeichnung „menschenwürdig“ zu geben, erscheint zweifelhaft. Allerdings, was soll man in einer Gesellschaft anderes erwarten, wenn auch schon in Freiheit alte, kranke und sterbende Menschen in Pflegeheimen mitunter sich selbst überlassen bleiben (müssen), weil der Personalschlüssel für eine wirklich menschenwürdige Pflege und Betreuung zu gering ist ?! Da nimmt eine Gesellschaft dann für „Verbrecher“, „Kriminelle“ gewiss nicht mehr Geld in die Hand.
Sterben im Gefängnis
Angesichts des Sterbeprozesses eines Mitgefangenen geht es so manchem Gefangenen nicht anders als Menschen in Freiheit. Sie halten sich fern, verdrängen die Endlichkeit auch des eigenen Lebens. Gelegentlich erinnert man sich im Gespräch an den Tod von Gefangenen vor Jahren: „Weißt du noch, damals als X. sich erhängte ...?“. Die makabre, vielleicht auch grausame Pointe: Im Gefängnis mag so mancher Tod eines Gefangenen länger fortleben und erinnert werden, als eines Menschen in Freiheit, denn er geht meist ein in die kollektive Erinnerung eines Gefängnisses und wird von Gefangenengeneration zu Gefangenengeneration weiter erzählt.
In dieses Erinnerungskollektiv wird auch Willi eingehen – früher oder später.
Thomas Meyer-Falk, c/o JVA – Z. 3113, Schönbornstr. 32, D-76646 Bruchsal
http://www.freedom-for-thomas.de
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