Fast zehn Jahre sind vergangen seit den blutigen Tagen, als Italiens Polizei – der Regierungschef hieß auch damals Silvio Berlusconi – mit brutaler Gewalt den Protest gegen den G8-Gipfel in Genua niederknüppelte, den 23-jährigen Carlo Giuliani erschoss, eine von Gipfelgegnern als Schlafstätte genutzte Schule stürmte, in der folgenden Prügelorgie dutzende Gipfelgegner schwer verletzte und schließlich die gefangenen Protestierer systematisch misshandelte.
Doch jetzt darf sich der italienische Staat über ein leicht verfrühtes Jubiläumsgeschenk freuen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) nämlich ist der Meinung, bei dem Todesschuss auf Carlo Giuliano handele es sich um einen klaren Fall von Notwehr: Notwehr des Carabinieri-Beamten, der von den Demonstranten in seinem Jeep massiv attackiert worden sei.
Damit gehen die Straßburger Richter noch ein Stück weiter als die italienische Justiz. Die hatte das Verfahren gegen den Todesschützen mit dem kühnen Argument eingestellt, das Projektil sei an einem durch die Luft fliegenden Stein abgeprallt und habe nur deshalb Giuliani getroffen.
So oder so aber: Schuld sind in jedem Fall die Demonstranten. Dafür bemüht der EGMR den Kontext – fasst ihn jedoch sträflich eng. In Notwehr handelten nämlich zuerst und vor allem die Demonstranten. Obwohl ihr Zug genehmigt war, wurden sie ohne Vorwarnung mit CS-Reizgas-Granaten bombardiert, eingekesselt, von Knüppelkommandos ebenso wie von in die Menge fahrenden Einsatzfahrzeugen attackiert. Kurz: Wie insgesamt in Genua ging es auch in diesem Fall der Polizei – und ihren politischen Auftraggebern – darum, gezielt die Auseinandersetzung eskalieren zu lassen.
Diese Strategie ist aufgegangen, und alle an ihrer Umsetzung beteiligten Spitzenbeamten der Polizei machten in der Folge glänzende Karrieren. Der EGMR hätte hier die Rolle des Korrektivs spielen können. Traurig, dass er sich stattdessen dazu herbeiließ, dem polizeilichen Gewaltexzess auch noch das Siegel "menschenrechtskonform" zu verleihen.