Polizei missachtet ihre eigenen Vorschriften
Schlossgarten. Der Einsatz von Pfefferspray gegen Kinder ist unzulässig, dennoch ist gesprüht worden.
Von Thomas Braun und Markus Heffn
Die Ereignisse des 30. September 2010 im Schlossgarten sind zwar von einem Untersuchungsausschuss des Stuttgarter Landtags unter die Lupe genommen worden, wirklich zur Aufklärung beigetragen haben die Sitzungen allerdings kaum - zu sehr waren die Parlamentarier von CDU und FDP auf der einen und SPD und Grünen auf der anderen Seite damit beschäftigt, die jeweilige Deutungshoheit über die Vorgänge zu erlangen. Und auch die vor Wochen vom Landespolizeipräsidenten Wolf Hammann angekündigte „interne Nachbereitung” hat bisher keinerlei Ergebnis hervorgebracht.
Noch ungeklärt ist etwa die Frage, unter welchen Voraussetzungen Pfefferspray gegen Demonstranten eingesetzt wurde und ob dies rechtmäßig war. Der Stuttgarter Zeitung liegt nun eine polizeiinterne Anweisung vor, aus der hervorgeht, dass der Einsatz des Sprays gegenüber Kindern „grundsätzlich unzulässig ist”. Bei der Polizei ist aktenkundig, dass am 30. September in mindestens drei Fällen Kinder im Alter von unter 14 Jahren Opfer von polizeilichen Sprühattacken geworden sind. Das Deutsche Rote Kreuz (DRK) bestätigt zudem auf StZ-Anfrage, dass unter den 130 Verletzten, die von DRK-Sanitätern versorgt wurden, rund zehn Minderjährige gewesen seien, die nach einer Pfeffersprayattacke behandelt werden mussten, so der DRK-Sprecher Udo Bangerter. Der Jüngste der Betroffenen sei knapp elf Jahre alt gewesen.
Gerade bei den vielen Kindern und Jugendlichen, die am sogenannten schwarzen Donnerstag den Polizeieinsatz gegen Stuttgart 21 -Gegner miterlebten, haben sich die Bilder und das selbst Erlebte tief ins Gedächtnis eingegraben. Lea Plauzien etwa, Schülerin der Jörg-Rathgeb-Schule in Neugereut und zu diesem Zeitpunkt 13 Jahre alt, war gemeinsam mit Freunden direkt im Anschluss an die genehmigte Schülerdemonstration in den Schlossgarten gerannt, weil sie gehört hatte, dass dort Bäume gefällt werden sollten. Sie gehörte zu jenen, die sich vor die Wasserwerfer setzten. „Wir saßen unter Planen, dann kam die Polizei und hat uns die Planen weggerissen. Wir wollten gerade aufstehen, um zu gehen, ohne dass wir von einem Polizisten darum gebeten wurden. Doch dann hat mir der Beamte plötzlich Pfefferspray direkt ins Auge gesprüht, grundlos”, erzählt sie. Amateuraufnahmen bestätigen diese Vorwürfe. Unter anderem ist auf den Bildern auch zu sehen, wie ein schwarz uniformierter Polizist verdeckt und ohne erkennbaren Anlass aus Hüfthöhe Pfefferspray unmittelbar neben dem Gesicht eines Kindes versprüht, das neben seiner Mutter am Boden sitzt.
Ein ähnliche Geschichte erzählt Astou Faye, die damals 14 Jahre alt war. Auch sie hat an der Blockade teilgenommen. Als sie aufgestanden sei, um den Weg frei zu machen, habe ihr ein „schwarz uniformierter” Polizist gezielt und aus kurzer Distanz ins Gesicht gesprüht: „Das ganze Gesicht hat gebrannt”, sagt sie. Astou hat Anzeige wegen gefährlicher Körperverletzung gegen die Polizei erstattet. Insgesamt sind nach dem Einsatz laut Pressestaatsanwältin Claudia Krauth knapp 40 Polizeibeamte angezeigt worden, 24 davon seien bekannt. Gegen einen davon wurde auf Antrag der Staatsanwaltschaft nun vom Amtsgericht Stuttgart ein Strafbefehl wegen „Körperverletzung im Amt” erlassen. Er habe einer Frau grundlos ins Gesicht gesprüht, so Claudia Krauth. Die Polizei selbst äußert sich zu den Ermittlungen nicht.
Dass speziell der Einsatz von Pfefferspray an strikte Bedingungen geknüpft ist, geht aus dem „Merkblatt Pfefferspray” hervor, einem öffentlich nicht zugänglichen Leitfaden des polizeiärztlichen Dienstes Baden-Württemberg für alle Polizeikräfte des Bundes und der Länder. Dort heißt es: „Wird das Reizsprühgerät aus unter einem Meter Entfernung eingesetzt, besteht ein erhöhtes Verletzungsrisiko durch den Sprühstrahl in die Augen für die Betroffenen.” Daher sei der Einsatz bei einer Distanz von unter einem Meter „grundsätzlich unzulässig” - es sei denn, es handele sich um eine Notwehrsituation. Und weiter heißt es: „Grundsätzlich unzulässig ist der Einsatz bei erkennbar Schwangeren und gegenüber Kindern.”
Ob es nun zu weiteren Verfahren gegen Polizisten kommt, hängt auch von den Vorermittlungen ab, die laut Staatsanwaltschaft aus Kapazitätsgründen von der Polizei selbst durchgeführt werden. Das sei ein übliches Verfahren. Wird dabei der interne Leitfaden als Rechtsnorm angelegt, haben die Beamten beim Pfeffersprayeinsatz gleich mehrfach dagegen verstoßen und zudem schwere Augenverletzungen bei Minderjährigen in Kauf genommen. Kontaktlinsenträger könnten Krämpfe in den Augenlidern erleiden, was zu „irreversiblen Schädigungen” führen könne, heißt es in dem Merkblatt. Auch Bewusstlosigkeit, Atemstillstand und allergische Reaktionen könnten durch das Spray ausgelöst werden. In diesen Fällen sei ein „Rettungsdienst/Notarzt erforderlich”.
Auch diese Vorschrift wurde am 30. September von der Polizeiführung um den Einsatzleiter Siegfried Stumpf missachtet. Die Verantwortlichen informierten nicht - wie seit Jahrzehnten üblich - die Rettungsleitstelle über den geplanten Einsatz; daher waren über mehrere Stunden überhaupt keine Sanitäter und Notärzte im Schlossgarten. Laut Aussage des DRK hatte die Besatzung eines Rettungswagens rein zufällig beim Vorbeifahren die Vorgänge im Schlossgarten beobachtet und Alarm geschlagen. Bei planbaren Großereignissen werde man üblicherweise lange im Voraus mit einbezogen, sagt der DRK-Sprecher Udo Bangerter: „In diesem Fall haben wir uns selber zum Einsatz beordert.”